Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-720004/21/WEI/La

Linz, 28.12.2009

E R K E N N T N I S

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Dr. Wolfgang Weiß über die Berufung des X, geb. X, X, X, mittlerweile vertreten durch X, Rechtsanwalt in X, X, gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Linz vom 28. April 2000, Zl. Fr-72827, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbots zu Recht erkannt:

 

 

         Der Berufung wird insoweit stattgegeben, als der angefochtene Bescheid aufgehoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und allfälligen Er­lassung eines neuen Bescheides an die Behörde erster Instanz zurück­ver­wiesen wird.

 

Rechtsgrundlagen:

§ 66 Abs 2 Allgemeines Verwal­tungs­verfahrensgesetz 1991 – AVG

 

 

                                                           

Entscheidungsgründe:

 

1.1. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Linz vom 28. April 2000, Zl. Fr-72.827, wurde über den Berufungswerber (in der Folge: Bw), einen türkischen Staatsangehörigen, wie folgt abgesprochen:

 

"Die Bundespolizeidirektion Linz erläßt gegen Sie gemäß § 36 Abs. 1 und 2 Ziffer 1 in Verbindung mit den §§ 37 und 39 des FrG 1997, BGBl. I 75/1997 (Fremdengesetz 1997-FrG) i.d.F. BGBl. I 158/1998 ein auf 10 Jahre befristetes Aufenthaltsverbot für das Bundesgebiet der Republik Österreich."

 

Begründend führte die belangte Behörde in der Hauptsache folgende vier strafgerichtliche Verurteilungen aus dem vergangenen Jahrzehnt (1990 bis 1999) an:

 

1) LG Linz 32 EVr 1692/90 Hv 136/90 vom 13.12.1990, rk. 18.12.1990, §§ 83/1, 15, 105/1, 134/1, 229/1 StGB, 60 Tagessätze zu je S 160,-- (S 9.600,--) im NEF 30 Tage Freiheitsstrafe, und 60 Tagessätze zu je S 160,-- (S 9.600,--) im NEF 30 Tage Freiheitsstrafe bedingt, Probezeit 3 Jahre, Vollzugsdatum 18.11.1991.

 

Zu LG Linz 32 EVr 1692/90 Hv 136/90, rk. 18.12.1990, bedingter Teil der Geldstrafe endgültig nachgesehen. LG Linz 32 EVr 1692/90 vom 19.1.1994.

 

2) BG Linz 19 U 740/96 vom 30.8.1996, rk. 25.9.1996, § 89 (81/2) StGB, 90 Tagessätze zu je s 120,-- (S 10.800,--) im NEF 45 Tage Freiheitsstrafe, Vollzugsdatum 18.1.1999.

 

3) LG Linz 25 EVr 307/97 Hv 44/97 vom 18.6.1997, rk. 18.6.1997, §§ 83/1, 105/1, 106 Abs. 1/1, § 15, 269/1 StGB, 1 Monat Freiheitsstrafe, 6 Monate Freiheitsstrafe bedingt, Probezeit 3 Jahre.

 

Zu LG Linz 25 EVr 307/97 Hv 44/97, rk. 18.6.1997, Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre, BG Linz 17 U 436/99D/B vom 18.11.1999.

 

4) BG Linz 17 U 436/99D vom 18.11.1999, rk. 32.11.1999, § 89 (81/1 u 2) StGB, 180 Tagessätze zu je S 50,-- (S 9.600) im NEF 90 Tage Freiheitsstrafe.

 

Weiters wäre der Bw elf Mal wegen Verwaltungsübertretungen nach der StVO, dem KFG, dem FSG und EGVG rechtskräftig mit Geldstrafen bestraft worden.

 

In der Stellungnahme vom 10. März 2000 habe der Bw angegeben, dass er sich seit 1989 dauerhaft in Österreich aufhalte und durchgehend erwerbstätig gewesen sei. Seit 1992 führe er eine Lebensgemeinschaft, der zwei Mädchen im Alter von 6 Jahren und 9 Monaten entstammten. Seine Lebensgefährtin X erwartete ihr drittes Kind und hätte eine zusage für die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft erhalten.

 

Bei den strafgerichtlichen Verurteilungen handelte es sich meist um Delikte im Zusammenhang mit Alkohol im Straßenverkehr. Der Führerschein wäre ihm für die Dauer von vier Jahren entzogen worden und er würde kein Auto mehr besitzen. Er würde vom Alkoholkonsum gänzlich Abstand nehmen und sei ernsthaft bemüht derartige Taten nicht mehr zu begehen. Ein Aufenthaltsverbot wäre ein massiver Eingriff in sein Privat- und Familienleben. Wegen der schlechten Wirtschaftslage und des niedrigen Lohnniveaus in der Türkei könnte er seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht mehr nachkommen. Die Lebensgefährtin litte unter depressiven Störungen und Existenzängsten. Es wären negative Auswirkungen auf die Erziehung der Kinder zu befürchten. Damals war der Bw als Arbeiter bei der Firma X in X beschäftigt und verdiente S 12.000,-- netto im Monat.

 

Die belangte Behörde hielt das Gesamtfehlverhalten des Bw für so schwerwiegend, dass sie auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Lebenssituation des Bw ein Aufenthaltsverbot als dringend geboten erachtete. Man werde abwarten müssen, wie sich der weitere Lebensweg des Bw außerhalb von Österreich entwickle.

 

1.2. Gegen den Aufenthaltsverbotsbescheid, der dem Bw am 3. Mai 2000 zu Händen seiner damaligen Rechtsvertreter zugestellt worden war, wurde rechtzeitig Berufung am 17. Mai 2000 eingebracht, die der Sicherheitsdirektion für Ober­österreich vorgelegt wurde.

 

Mit Bescheid der Sicherheitsdirektion für Oberösterreich vom 3. Jänner 2001, Zl. St 102/00, wurde der Berufung keine Folge gegeben und der angefochtene Bescheid bestätigt. Die Berufungsbehörde verwies auf die vier gerichtlichen Verurteilungen und gewichtete die Verurteilungen wegen gefährlicher Drohung nach §§ 105, 106 StGB ebenso wie jene wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt gemäß § 269 Abs 1 StGB als schwer. Auch die Gefährdungsdelikte nach § 89 StGB machten deutlich, dass dem Bw die körperliche Sicherheit anderer Personen egal sei. Die Verwaltungsübertretungen nach §§ 4 und 5 StVO und der Ordnungsstörung würden dieses Gesamtfehlverhalten abrunden.

 

2.1. Gegen den Berufungsbescheid brachte der Bw durch seinen nunmehrigen Rechtsanwalt X die Beschwerde vom 7. Februar 2001 an den Verwaltungsgerichtshof mit dem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung ein. Diese Eingabe übermittelte dieser Rechtsanwalt der belangten Behörde mit Schreiben vom 12. Februar 2001 und ersuchte um Absehen von fremdenpolizeilichen Zwangsmaßnahmen gegen seinen Mandanten.

 

Mit Beschluss vom 13. Februar 2001, Zl. AW 2001/18/0019-3, gab der Verwaltungsgerichtshof dem Antrag gemäß § 30 Abs 2 VwGG auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung statt.

 

Mit weiterem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26. Juni 2003, Zl. 2001/18/0028-9, wurde das Beschwerdeverfahren bis zur Vorabentscheidung des in anderen Beschwerdesachen angerufenen Gerichthofes der Europäischen Gemeinschaften ausgesetzt.

 

Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichthofs vom 15. November 2005, Zl. 2005/18/0265-12, wurde der angefochtene Bescheid der Sicherheitsdirektion wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

 

2.2. In weiterer Folge hat die belangte Behörde über Ersuchen der Sicherheitsdirektion vom 7. Dezember 2005, dem Oö. Verwaltungssenat die Verwaltungsakten am 9. Jänner 2006 zur Berufungsentscheidung vorgelegt.

 

Mit näher begründetem Beschluss vom 23. Mai 2006, Zl. 720004/2/WEI/Mu/Ps, stellte der Oö. Verwaltungssenat fest, dass er zur Entscheidung über diese Berufung sachlich nicht zuständig ist und leitete die Berufung an die Sicherheitsdirektion für Oberösterreich weiter.

 

Dagegen erhob der Bw durch seinen Rechtsvertreter Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 27. November 2006, Zl. B 1226/06-6, die Behandlung der Beschwerde ablehnte. Über nachträglichen Antrag wurde die Beschwerde gemäß Art 144 Abs 3 B-VG dem Verwaltungsgerichthof zur Entscheidung abgetreten (Beschluss vom 25.01.2007, Zl. B 1226/06-8)

 

2.3. Der Verwaltungsgerichtshof hat schließlich mit Erkenntnis vom 11. Mai 2009, Zl. 2007/18/0038-8, den h Ausspruch der Unzuständigkeit bzw den oben zitierten Bescheid des Oö. Verwaltungssenats wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

 

In der Begründung vertritt der Verwaltungsgerichtshof unter Hinweis auf seine Vorjudikatur (vgl VwGH 27.06.2006, Zl. 2006/18/0138; VwGH 28.2.2008, Zl. 2006/18/0277; VwGH 2.12.2008, Zl. 2007/18/0378) die Ansicht, dass es im Fall des Bw, der nach einem Bescheid des Arbeitsmarktservice Linz die Voraussetzungen des Art 6 Abs 1 dritter Gedankenstrich ARB erfülle, in Anbetracht des Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechts und der Judikatur des EuGH geboten sei, den Instanzenzug zu einem Tribunal einzurichten. Die Zuständigkeit der unabhängigen Verwaltungssenate könne auf Grund der Wortfolge "sofern nichts anderes bestimmt ist" im Einleitungssatz des § 9 Abs 1 FPG angenommen werden, zumal der Verfassungsgerichthof in seinem Beschluss vom 13. Oktober 2006, Zl. G 26/06 ua., dazu ausgeführt habe, dass die unabhängigen Verwaltungssenate zur Entscheidung über Rechtsmittel nach dem FPG nicht nur im Fall von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen, sondern auch im Fall von assoziationsintegrierten türkischen Staatsangehörigen zuständig seien.

 

3. Die Zuständigkeit des unabhängigen Verwaltungssenats ergibt sich nunmehr in Bindung an die Ansicht des Verwaltungsgerichthofs aus § 9 Abs 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis er­hoben durch Einsichtnahme in den vorliegenden Verwaltungsakten und festgestellt, dass der angefochtene Bescheid schon nach der Aktenlage aufzuheben ist.

 

4. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat erwogen:

 

Gemäß § 66 Abs. 2 AVG kann die Berufungsbehörde den angefochtenen Be­scheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neunen Bescheids an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurück­verweisen, wenn der der Berufungsbehörde vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Ver­handlung unvermeidlich scheint.

 

Das von der belangten Behörde erlassene Aufenthaltsverbot, das auf zehn Jahre befristet wurde, datiert bereits vom 28. April 2000. Der zugrunde liegende wesentliche Sachverhalt stammt aus den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Im Hinblick auf den seither verstrichenen Zeitraum von mehr als 9 1/2 Jahren liegt es auf der Hand, dass sich der maßgebliche Sachverhalt wesentlich geändert haben muss. Die für die Erlassung maßgeblichen Umstände liegen beinahe so lange zurück als die von der belangten Behörde vorgesehene Gültigkeitsdauer. Die Frist beginnt zwar nach § 39 Abs 2 FrG 1997(ebenso nach § 63 Abs 2 FPG) erst mit Eintritt der Durchsetzbarkeit des Aufenthaltsverbots zu laufen, was im Hinblick auf die vom Verwaltungsgerichthof gewährte aufschiebende Wirkung bisher noch nicht eintrat. Allerdings kommt nach so langer Zeit der Frage des Wohlverhaltens des Bw ein ganz entscheidendes Gewicht zu. Ob ein Aufenthaltsverbot überhaupt noch geboten sein kann, ist erst nach Überprüfung des Verhaltens des Bf in dem verstrichenen langen Zeitraum zu beurteilen. Der dem unab­hängigen Verwaltungssenat vorliegende Sachverhalt ist jedenfalls unvollständig und damit so mangelhaft, dass eine erschöpfende Beurteilung der Voraussetzungen für ein Aufenthaltsverbot unmöglich erscheint

 

Die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung scheint unver­meidlich, weil davon ausgegangen werden kann, dass der (aktuelle) Sach­verhalt im Rahmen einer solchen, bei der dem Bw alle von der Behörde noch zu erhebenden Sachverhaltsdetails vorgehalten werden und allenfalls unmittelbar auch Zeugen vernommen werden können, am effektivsten erhoben werden kann. Nach dem verstrichen Zeitraum von bald 10 Jahren wird auch die Notwendigkeit des Eingriffs in das Privat- und Familienleben des Bw und die Frage der Aufenthaltsverfestigung neu zu beurteilen sein. Die belangte Behörde wird nunmehr auch zu beachten haben, dass nach neuerer Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs bei assoziationsintegrierten türkischen Staatsangehörigen auch die (strengeren) Voraussetzungen des § 86 Abs 1 FPG wie bei EWR-Bürgern zu prüfen sind (vgl VwGH 3.04.2009, Zl. 2008/22/0913 unter Hinweis auf VwGH 19.09.2008, Zl. 2007/21/0214).

 

Letztlich ausschlaggebend für die Zurückverweisung ist der Umstand, dass mit einer mündlichen Verhandlung und unmittelbaren Beweisaufnahme durch den Unab­hängigen Verwaltungssenat selbst keine Ersparnis an Zeit und Kosten im Sinn des komplementären Tatbestands des § 66 Abs 3 AVG verbunden wäre. Im Gegenteil gebietet es die Zweckmäßigkeit, der Raschheit, der Einfachheit und die Kosten­ersparnis (vgl § 39 Abs 2 letzter Satz AVG), die notwendigen ergänzenden Beweise durch die schon örtlich für alle Beteiligte näher gelegene belangte Behörde vor­nehmen zu lassen.

 

Zusätzlich würde bei Durchführung des notwendigen ergänzenden Ermittlungsverfahrens durch den Unabhängigen Verwaltungssenat der dem Bw nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts­hofs generell zustehende gericht­liche Rechtsschutz, ihm insofern entzogen werden, als der (gemäß Art 130 und 131 B-VG zur allfälligen Überprüfung zuständige) Verwaltungsgerichtshof – im Gegen­satz zum Unabhän­gigen Verwaltungssenat (vgl. Art. 129a B-VG iVm §§ 67a ff AVG) – im Wesentlichen nur als Revisionsinstanz und nicht als Tatsacheninstanz einge­richtet ist. Es ist daher davon auszugehen, dass die neuerliche Prüfung und Er­gänzung des Sachverhalts durch die Administrativbehörde zu erfolgen hat, sodass für den Bw eine allfällige nachfolgende (umfassende) Prüfungsmöglichkeit durch Un­abhängigen Ver­waltungssenat gewahrt bleibt.

 

Es war daher der angefochtene Bescheid zu beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und allfälligen Erlassung eines neuen Bescheids an die belangte Behörde zurückzuweisen.

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

Hinweise:

1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss - von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen - jeweils von einem Rechtsanwalt unterschrieben sein. Für jede dieser Beschwerden ist eine Gebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

2. Im Berufungsverfahren ist eine Eingabengebühr von 13 Euro für die Berufung angefallen.

 

 

Dr. W e i ß