Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-231250/7/AB/Sta

Linz, 27.07.2011

 

E r k e n n t n i s

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Dr. Astrid Berger über die Berufung des A C, geb., W, V, gegen Spruchpunkt 1. des Straferkenntnisses des Bezirkshauptmannes des Bezirks Vöcklabruck vom 18. April 2011, Z Sich96-1017-2011, wegen einer Übertretung nach dem Fremdenpolizeigesetz zu Recht erkannt:

 

 

I.  Der Berufung wird stattgeben, das angefochtene Straferkenntnis aufgehoben und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 2 VStG eingestellt.

 

II. Der Berufungswerber hat weder einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vor der belangten Behörde noch einen Kostenbeitrag für das Verfahren vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat zu leisten.

 

Rechtsgrundlagen:

Zu I.: §§ 24, 45 Abs. 1 Z 2 und § 51 Verwaltungsstrafgesetz 1991 (VStG) iVm § 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG);

Zu II.: § 66 Abs. 1 VStG.

 

 

 

Entscheidungsgründe:

 

1.1.         Mit Straferkenntnis des Bezirkshauptmannes des Bezirks Vöcklabruck vom 18. April 2011, Z Sich96-1017-2011, wurde über den Berufungswerber (in der Folge: Bw) eine Geldstrafe in Höhe von 500,- Euro (Ersatzfreiheitsstrafe: 50 Stunden) verhängt, weil er zum Tatzeitpunkt am 7. Februar 2011 am näher konkretisierten Tatort in V im Bundesgebiet angetroffen worden sei, ohne im Besitz eines gültigen Reisedokuments gewesen zu sein. Er habe sich daher als Staatsangehöriger der Türkei und damit als pass- und sichtvermerkspflichtiger Fremder zum Tatzeitpunkt am Tatort unrechtmäßig im Bundesgebiet der Republik Österreich aufgehalten.

 

 

Als verletzte Rechtsgrundlage wird hinsichtlich des bekämpften Spruchpunktes 1. § 120 Abs. 1 Z. 2 FPG genannt.

 

Nach Darstellung der einschlägigen Rechtsgrundlagen geht die belangte Behörde von einem unrechtmäßigen Aufenthalt des Bw im Bundesgebiet aus, weshalb ein Verstoß gegen die zitierte Bestimmung des FPG vorliege.

 

Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass anlässlich einer fremdenpolizeilichen Überprüfung am 7. Februar 2011 an näher konkretisierter Adresse festgestellt worden sei, dass sich der Bw nicht rechtmäßig im Bundesgebiet von Österreich aufhalte, da sein Asylantrag mit Bescheid vom 29. Dezember 2010 abgewiesen worden sei, sein temporär befristetes Aufenthaltsrecht in Österreich somit an diesem Tag geendet habe und er als sichtvermerkspflichtiger Fremder in Österreich zum Tatzeitpunkt über keinerlei Reisedokumente respektive über keinen Sichtvermerk für Österreich oder einen Aufenthaltstitel nach dem NAG verfüge.

 

Nach Wiedergabe der Stellungnahme des Bw (in der dieser einen hohen Grad an Integration behauptet, von der amtswegigen Erteilung einer Niederlassungsbewilligung ausgeht und daher ein Verschulden iSd § 120 Abs. 1 iVm § 31 Abs. 1 FPG seines Erachtens ausgeschlossen sei) führt die belangte Behörde weiters aus, dass der Bw am 28. November 2002 illegal über Unbekannt in das Bundesgebiet eingereist sei, er weder über eine Aufenthaltsberechtigung verfüge oder aufgrund einer Dokumentation des Aufenthaltsrechtes nach dem NAG zur Niederlassung oder zum Aufenthalt oder aufgrund einer Verordnung für Vertriebene zum Aufenthalt berechtigt sei, und auch über keinen Aufenthaltstitel eines Vertragsstaates (Schengen-Staates) verfüge. Auch habe sich der Bw zum Zeitpunkt der Verwaltungsübertretung am 7. Februar 2011 in keinem Asylverfahren befunden. Ihm sei daher kein Aufenthaltsrecht nach asylrechtlichen Bestimmungen zugekommen. Sein Asylverfahren sei seit 24. Dezember 2010 gemäß §§ 7 und 8 AsylG rechtskräftig in II. Instanz negativ finalisiert. Auch liege für den Bw weder eine Beschäftigungsbewilligung nach dem AuslBG, eine Entsendebewilligung, eine EU-Entsendebestätigung, eine Anzeigebestätigung gem. § 3 Abs. 5 AuslBG noch eine Anzeigebestätigung gem. § 18 Abs. 3 AuslBG vor.

 

Die vorgeworfene Verwaltungsübertretung vom 7. Februar 2011 erfolgte mehr als 8 Jahre nach der illegalen Einreise des Bw in das Bundesgebiet der Republik Österreich; zudem werde dem Bw nicht die illegale Einreise sondern der illegale Aufenthalt im Bundesgebiet nach negativem rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens vorgeworfen. Der Bw habe sich somit zum Tatzeitpunkt nicht im Status eines Flüchtlings oder Asylwerbers befunden.

 

Zwar berufe sich der Bw aufgrund seines langen Aufenthalts im Bundesgebiet auf sein Grundrecht auf Privat- und Familienleben gem. Art. 8 EMRK, habe aber die Möglichkeit nicht genutzt, seine Integration im Rahmen seiner Stellungnahme glaubhaft darzulegen.

 

Zur Strafhöhe in Spruchpunkt 1. führt die belangte Behörde abschließend aus, dass diese im unteren Bereich des Strafrahmens angesiedelt sei. Vom außerordentlichen Milderungsrecht gem. § 20 VStG habe kein Gebrauch gemacht werden können.

 

1.2.         Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Bw mit Schriftsatz vom 20. April 2011 fristgerecht Berufung.

 

 

Darin wird der Antrag auf Aufhebung des in Rede stehenden Straferkenntnisses und Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens, in eventu Absehen von der Strafverhängung gem. § 21 Abs. 1 VStG, in eventu Abänderung hinsichtlich der Strafhöhe gestellt.

 

Begründend wird vom Bw im Wesentlichen ausgeführt, dass über die Zulässigkeit einer Ausweisung nicht rechtskräftig abgesprochen worden sei. Wie die Behörde richtig festgestellt habe, habe der Bw im Jahr 2002 einen Asylantrag gestellt; er befände sich seit über 8 Jahren ununterbrochen in Österreich; der Bw sei bestens integriert. Im Lichte der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes gehe der Bw von der Unzulässigkeit der Ausweisung und somit einer amtswegig zu erteilenden Niederlassungsbewilligung aus. Aus diesem Grund könne dem Bw unter dem Aspekt des Art. 8 EMRK iSd § 120 Abs. 1 iVm § 31 Abs. 1 FPG kein Verschulden angelastet werden. Es liege entschuldigender Notstand gem. § 6 VStG vor bzw. würden die Milderungsgründe die Erschwerungsgründe gem. § 20 VStG jedenfalls beträchtlich überwiegen.

 

Abschließend hält der Bw fest, dass nach Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes eine Abschiebung – selbst bei Vorliegen einer durchsetzbaren Ausweisungsentscheidung – unzulässig sei, solange eine behördliche Entscheidung nach §§ 43 Abs. 2, 44. Abs. 3 bzw. 44 Abs. 4 NAG noch nicht erfolgt sei. Der Bw habe nach Beendigung des Asylverfahrens einen Antrag auf Niederlassungsbewilligung gestellt.

 

1.3. Nach entsprechendem Verbesserungsauftrag und Aufforderung zur Stellungnahme durch den Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich schränkte der Bw in seiner "Berufungsergänzung" vom 22. Juni 2011 seine Berufung auf Spruchpunkt 1. ein. Weiters führt er ergänzend aus, dass über die Zulässigkeit einer Ausweisung nicht rechtskräftig abgesprochen worden sei; über den Ausweisungsbescheid der belangten Behörde vom 23. Mai 2011 sei eine Berufung eingebracht worden.

 

Zum Integrationsgrad führt der Bw – wie schon in seiner Berufung und der darin wiedergegebenen Stellungnahme – wiederholend aus, dass sein (einziges) Asylverfahren im Jahr 2002 mit Asylantragstellung begonnen habe und mit Rechtsmitteln zu Ende geführt worden sei. Seit seiner Einreise bis zum negativen Abschluss des Asylverfahrens sei sein Aufenthalt in Österreich legal gewesen. Er habe das Verfahren zu keiner Zeit behindert oder verzögert, habe alle Einvernahmetermine wahrgenommen und Rechtsmittel sowie Stellungnahmen rechtzeitig eingebracht. Seine gesamte Familie lebe in Deutschland und nicht in der Türkei. Er habe keine Verwandten oder sonstigen Anknüpfungspunkte in der Türkei. Er sei im Alter von vierzehn Jahren nach Deutschland gezogen und dort aufgewachsen. Sein ganzes Leben lang habe er ausschließlich die deutschen/österreichischen Sitten und Bräuche gelebt. Es bestehe ein aufschiebend bedingter Dienstvertrag mit einer näher bezeichneten Firma in A; somit könne er eine allfällige Selbsterhaltungsfähigkeit und auch Krankenversicherung vorweisen; sein Lebensunterhalt sei damit als gesichert anzusehen. Die deutsche Sprache beherrsche er auf hohem Niveau. Trotz der schwierigen Situation für Asylwerber am Arbeitsmarkt sei es ihm möglich zu arbeiten. Österreich sei zu seinem Lebensmittelpunkt geworden; in Österreich sei er integriert, habe hier seinen Freundes- und Bekanntenkreis und nehme am sozialen und kulturellen Leben teil.

 

2.1.          Mit Schreiben vom 4. Mai 2011 übermittelte die belangte Behörde die gegenständliche Berufung unter gleichzeitiger Vorlage des bezughabenden Verwaltungsaktes.

 

 

2.2.         Der Oö. Verwaltungssenat erhob Beweis durch Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt sowie aktuelle Auszüge aus den einschlägigen Datenbanken (AI, FI, FP SA) und einen Versicherungsdatenauszug der österr. Sozialversicherung.

 

 

Da im Verfahren der entscheidungswesentliche Sachverhalt – auch vom Bw unbestritten – feststand, lediglich die Klärung einer Rechtsfrage vorzunehmen war und kein diesbezüglicher Parteienantrag vorlag, konnte gemäß § 51e Abs. 3 VStG auf die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung verzichtet werden.

 

2.3.         Der Oö. Verwaltungssenat geht daher von dem unter Punkt 1.1. und 1.2. dieses Erkenntnisses dargestellten, entscheidungsrelevanten Sachverhalt aus.

 

 

2.4.         Da im angefochtenen Bescheid weder eine primäre Freiheitsstrafe noch eine 2.000,- Euro übersteigende Geldstrafe verhängt wurde, ist der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich zur Entscheidung durch eines seiner Mitglieder berufen (§ 51c VStG).

 

 

 

3.        Der Oö. Verwaltungssenat hat erwogen:

 

 

3.1.         Die maßgebliche Rechtslage lautet wie folgt:

 

 

3.1. Nach § 51c VStG hat der Unabhängige Verwaltungssenat im gegenständlichen Fall - weil mit dem angefochtenen Straferkenntnis eine 2.000 Euro übersteigende Geldstrafe nicht verhängt wurde - durch das nach der Geschäftsverteilung zuständige Einzelmitglied zu entscheiden. Dabei ist gemäß § 1 Abs. 2 VStG grundsätzlich das zur Zeit der Tat geltende Recht – im vorliegenden Fall daher das Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I 100, in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I 17/2011 – anzuwenden.

 

3.2. Gemäß § 120 Abs. 1 Z 2 FPG 2005, BGBl. I 100 in der nunmehr im Sinne des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs vom 9. März 2011, G 53/10 u.a. im Verfahren vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat anzuwendenden Fassung (Aufhebung der Wortfolge "von 1 000 Euro"; die aufgehobene Bestimmung hat der Verfassungsgerichtshof ausdrücklich für nicht mehr anwendbar erklärt), begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis 5.000 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu drei Wochen, zu bestrafen, wer sich als Fremder nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.

 

Gemäß § 31 Abs. 1 FPG halten sich Fremde rechtmäßig im Bundesgebiet auf,

 

1. wenn sie rechtmäßig eingereist sind und während des Aufenthalts im Bundesgebiet die Befristungen oder Bedingungen des Einreisetitels oder die durch zwischenstaatliche Vereinbarungen, Bundesgesetz oder Verordnung bestimmte Aufenthaltsdauer nicht überschritten haben;

 

2. wenn sie auf Grund einer Aufenthaltsberechtigung oder einer Dokumentation des Aufenthaltsrechtes nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz zur Niederlassung oder zum Aufenthalt oder auf Grund einer Verordnung für Vertriebene zum Aufenthalt berechtigt sind;

 

3. wenn sie Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels sind, sofern sie während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet keiner unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen;

 

4. solange ihnen ein Aufenthaltsrecht nach asylrechtlichen Bestimmungen zukommt;

 

5. (Anm.: aufgehoben durch BGBl. I Nr. 122/2009)

 

6. wenn sie eine Beschäftigungsbewilligung nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz mit einer Gültigkeitsdauer bis zu sechs Monaten, eine Entsendebewilligung, eine EU-Entsendebestätigung, eine Anzeigebestätigung gemäß § 3 Abs. 5 AuslBG oder eine Anzeigebestätigung gemäß § 18 Abs. 3 AuslBG mit einer Gültigkeitsdauer bis zu sechs Monaten, innehaben oder

 

7. soweit sich dies aus anderen bundesgesetzlichen Vorschriften ergibt.

 

§ 2 Abs. 4 Z 1 FPG definiert Fremde als Personen, die die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzen.

 

3.3.1. Im vorliegenden Fall ist zunächst unbestritten, dass der Bw nicht österreichischer Staatsangehöriger und somit Fremder im Sinne des FPG ist.

 

Bis zur rechtskräftigen negativen Abweisung seines Asylantrags am 24. Dezember 2010 war der Bw auf Grund des Asylgesetzes zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Der Aufenthalt des Bw seit dem 25. Dezember 2010 lässt sich jedoch auf keine Bestimmung des § 31 Abs. 1 FPG stützen. Weder begründet ein nach § 44 Abs. 3 und Abs. 4 NAG gestellter Antrag auf Erteilung einer (humanitären) Niederlassungsbewilligung gemäß § 44 Abs. 5 und § 44b Abs. 3 NAG ein Aufenthalts- oder Bleiberecht, noch könnte ein auf Art. 8 EMRK gestützter Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für sich allein genommen zu einem rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des § 31 Abs. 1 FPG führen (vgl. VwGH 27.1.2007, 2007/21/0115). Damit hat der Bw objektiv tatbestandsmäßig gehandelt.

 

3.3.2. Das FPG enthält keine eigene Regelung hinsichtlich des Verschuldens, weshalb § 5 Abs. 1 VStG zur Anwendung kommt, wonach zur Strafbarkeit fahrlässiges Verhalten genügt. Fahrlässigkeit ist bei Zuwiderhandeln gegen ein Verbot oder bei Nichtbefolgung eines Gebotes dann ohne weiteres anzunehmen, wenn zum Tatbestand einer Verwaltungsübertretung der Eintritt eines Schadens oder einer Gefahr nicht gehört und der Täter nicht glaubhaft macht, dass ihn an der Verletzung der Verwaltungsvorschrift kein Verschulden trifft (Ungehorsamsdelikt).

 

Auch die gegenständliche Verwaltungsübertretung stellt ein Ungehorsamsdelikt dar. Es genügt daher fahrlässige Tatbegehung. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hat der Bw initiativ alles darzulegen, was für seine Entlastung spricht. Dies hat in erster Linie durch geeignetes Tatsachenvorbringen und durch Beibringung von Beweismitteln oder Stellung konkreter Beweisanträge zu geschehen. Bloßes Leugnen oder allgemein gehaltene Behauptungen reichen für die "Glaubhaftmachung" nicht.

 

Diesbezüglich bringt der Bw insbesondere vor, dass über die Zulässigkeit seiner Ausweisung im vorgeworfenen Tatzeitpunkt nicht rechtskräftig abgesprochen worden sei, weshalb er von der Unzulässigkeit seiner Ausweisung und somit amtswegigen Erteilung einer Niederlassungsbewilligung ausgegangen sei. Dies bekräftigt der Bw vor allem damit, dass eine Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK zu seinen Gunsten ausfallen müsse: Seine gesamte Familie lebe in Deutschland und nicht in der Türkei; er habe daher keine Verwandten und sonstigen Anknüpfungspunkte in der Türkei. Im Alter von 14 Jahren sei er nach Deutschland gezogen und dort aufgewachsen; er habe daher ausschließlich nach deutschen/österreichischen Sitten und Bräuchen gelebt. Seit November 2002 (d.h. über acht Jahre) befände er sich ununterbrochen in Österreich. Aufgrund eines aufschiebend bedingten Dienstvertrages mit einer näher konkretisierten Firma in A sei seine Selbsterhaltungsfähigkeit und auch Krankenversicherung gewährleistet. Die deutsche Sprache beherrsche er auf hohem Niveau. Er habe auch während seiner Stellung als Asylwerber einer Arbeit nachgehen können. Österreich sei sein Lebensmittelpunkt. Er sei in Österreich integriert, habe hier seinen Freundes- und Bekanntenkreis und nehme am sozialen und kulturellen Leben in Österreich teil (was nicht zuletzt auch durch vorgelegte "Empfehlungsschreiben" ua. des Bürgermeisters der Marktgemeinde O etc. erwiesen sei).

 

3.3.3. Gemäß § 66 Abs. 2 FPG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMKR insbesondere zu berücksichtigen:

 

1.     die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;

 

2.     das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

 

3.     die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

 

4.     der Grad der Integration;

 

5.     die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

 

6.     die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

 

7.     Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

 

8.     die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren.

 

Wird die Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 66 FPG rechtskräftig auf Dauer für unzulässig erklärt, so hat die Behörde gemäß § 44a NAG von Amts wegen einen Aufenthaltstitel gemäß § 43 Abs. 2 oder § 44 Abs. 3 NAG zu erteilen.

 

Gemäß § 44b Abs. 3 letzter Satz NAG gelten jedoch Verfahren gemäß § 43 Abs. 2 und § 44 Abs. 3 NAG über die Fälle des § 25 Abs. 2 NAG hinaus als eingestellt, wenn der Fremde das Bundesgebiet verlassen hat.

 

3.3.4. Die den Bw betreffende Ausweisungsentscheidung vom 23. Mai 2011 (Berufung im Entscheidungszeitpunkt anhängig in zweiter Instanz) lag im vorgeworfenen Tatzeitpunkt (7. Februar 2011) noch nicht vor. Im weiteren Verfahren wird im Sinne einer Vorfrage (§ 38 AVG iVm § 24 VStG) zu prüfen sein, ob die Ausweisung einen zulässigen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Bw darstellt. Dabei darf nach der neuesten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes der Umstand, dass das schützenswerte Privat- und Familienleben des Bw während eines schwebenden Asylverfahrens begründet wurde, gegebenenfalls nicht zu Ungunsten des Bw gewertet werden.

 

In dem jüngst ergangenen Erkenntnis vom 7. Oktober 2010, B 950/10, hielt der Verfassungsgerichtshof fest, dass im Zusammenhang mit der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK bei einer in hohem Maße stattgefundenen Integration (z.B. längerer Aufenthalt in Österreich und gute Deutschkenntnisse der Familie) eine "integrationsmindernde" Wertung des Umstandes, dass der Aufenthalt nur aufgrund eines letztlich unberechtigten Asylantrages rechtmäßig war, nicht generell zulässig sei. Vielmehr sei zu berücksichtigen, dass die Integration der Beschwerdeführer während ihrer jeweils einzigen Asylverfahren erfolgte, die sieben Jahre lang ohne rechtskräftige Entscheidung dauerten. Der Staat müsse Voraussetzungen schaffen, dass bis zur ersten rechtskräftigen Entscheidung nicht sieben Jahre verstreichen, wenn keine außergewöhnlich komplexen Rechtsfragen vorliegen und den Fremden die lange Dauer des Asylverfahrens nicht angelastet werden kann. Zudem habe der Umstand, dass die ersten negativen Entscheidungen behoben wurden, für die Beschwerdeführer die Erwartung erweckt, dass nicht zwangsläufig mit einer negativen Entscheidung des Asylverfahrens zu rechnen ist.

 

Wenn nun nach dieser verfassungsgerichtlichen Judikatur der Aufenthalt während eines einzigen, unverschuldet lange dauernden Asylverfahrens, in dem nicht besonders schwierige Rechtsfragen auftraten, als nicht mehr nur unsicherer Aufenthaltsstatus, sondern als stark "integrationsbegründender" Zustand zu werten ist, scheint es jedenfalls denkbar, dass auch bei der den Bw betreffenden Ausweisungsentscheidung die Interessenabwägung zu Gunsten einer dauernden Unzulässigkeit der Ausweisung ausfallen könnte. Das Vorliegen eines tatsächlichen Familienlebens im engeren Sinn über den gesamten Zeitraum des Aufenthalts im Bundesgebiet ist dabei nicht allein entscheidend, zumal Art. 8 EMRK auch die sonstigen im Inland geknüpften Beziehungen im Sinne eines "Privatlebens" schützt. Jedenfalls sind die vom Bw dargelegten und im Ausweisungsverfahren näher zu überprüfenden Umstände (konkret: langjähriger Aufenthalt des Bw im Bundesgebiet; berufliche Tätigkeit – wenn auch nur für die Dauer von etwa einem Jahr [2009/2010; vgl. den vorgelegten Versicherungsdatenauszug der österr. Sozialversicherung]; entsprechender Grad der sozialen Integration [vgl. auch "Empfehlungsschreiben" ua. vom Bürgermeister der Marktgemeinde O etc]; keine bzw. geringe Bindung zum Heimatstaat; strafgerichtliche Unbescholtenheit laut Verwaltungsakt [insbes. laut dem von der belangten Behörde vorgelegten FP SA-Auszug scheint im Strafregister der Republik Österreich keine Verurteilung auf]) mögliche Gründe dafür, dass die Ausweisung des Bw auf Dauer für unzulässig erklärt wird.

 

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur vergleichbaren vormals geltenden Rechtslage muss sich aber dann, wenn die (hypothetische) Ausweisung eines Fremden aus dem Grund des § 66 FPG nicht gerechtfertigt ist, dies im Ergebnis auch auf die Strafbarkeit des inländischen Aufenthaltes des betroffenen Fremden unter dem Gesichtspunkt des § 120 Abs. 1 Z. 2 FPG auswirken (vgl. mwN VwGH 26.6.2004, 99/21/0041; 20.9.1999, 98/21/0345). Im Lichte dieser höchstgerichtlichen Judikaturlinie kann aber ein Fremder nicht nach § 120 Abs. 1 Z. 2 FPG wegen nicht rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet bestraft werden, wenn seiner Ausweisung eine zu seinen Gunsten ausfallende Interessenabwägung nach § 66 FPG im Weg steht.

 

Darüber hinaus ist es auch nicht ausgeschlossen, dass gegebenenfalls bei dauerhaft unzulässiger Ausweisung gemäß § 44a NAG auch ein Aufenthaltstitel nach § 43 Abs. 2 bzw. § 44 Abs. 3 NAG zu erteilen sein könnte.

 

3.3.5. Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 22. Oktober 2009, 2009/21/0293, ausgeführt, dass Anträge nach den § 43 Abs. 2, § 44 Abs. 3 und 4 NAG den Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzen und daraus zwingend das Recht abzuleiten sei, die Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer humanitären Niederlassungsbewilligung im Inland abwarten zu dürfen. Der Antragsteller dürfe daher während dieses Verfahrens grundsätzlich nicht abgeschoben werden.

 

Dem Bw kann somit ein schuldhaftes Verhalten nicht vorgeworfen werden, weil dem vom Verwaltungsgerichtshof postulierten "Bleiberecht nach dem NAG" zwangsläufig auch ein über den Abschiebeschutz und über die durch Antrag eingeleiteten Verfahren hinausgehender Inhalt zukommt. Denn wenn nach einer Interessenabwägung iSd Art. 8 EMRK die Ausweisung des Bw auf Dauer unzulässig wäre, so müsste ihm von Amts wegen (§ 44a NAG) ein Aufenthaltstitel nach § 43 Abs. 2 oder § 44 Abs. 3 NAG erteilt werden. Dies ist allerdings nach § 44b Abs. 3 letzter Satz NAG nur möglich, solange sich der Fremde im Bundesgebiet aufhält. Für den Bw liegt somit eine entschuldigende Notstandssituation iSd § 6 VStG mit einem unauflöslichen Interessenkonflikt vor, wenn er einerseits zur Ausreise verpflichtet ist und andererseits aber im Inland bleiben muss, damit die Verleihung eines Aufenthaltsrechtes infolge einer für den Bw positiven Ausweisungsentscheidung überhaupt möglich ist. Ohne der Entscheidung über die Berufung gegen die Ausweisung des Bw vorzugreifen, erscheint diese nicht von vornherein aussichtslos. Der Eingriff in sein Privat- und Familienleben durch fremdenpolizeiliche Maßnahmen könnte angesichts der von ihm nicht verschuldeten langen Dauer des einzigen Asylverfahrens von Mai 2003 bis Ende Juni 2009 im Lichte der zitierten Judikatur des Verfassungsgerichthofs als unverhältnismäßig gewertet werden.

 

3.3.6. Zusammenfassend kann dem Bw nach Auffassung des erkennenden Mitglieds des Oö. Verwaltungssenates daher kein Verschulden angelastet werden, zum Tatzeitpunkt – zu dem noch keine Ausweisungsentscheidung erlassen war – durchaus vertretbar von der Unzulässigkeit seiner Ausweisung aus den Gründen des § 66 FPG ausgegangen zu sein. Darüber hinaus konnte der Bw im vorliegenden Fall zum vorgeworfenen Tatzeitpunkt jedenfalls vertretbar davon ausgehen, nach Abschluss seines Asylverfahrens die (zum vorgeworfenen Tatzeitpunkt noch nicht erlassene) Entscheidung über seine Ausweisung und die gegebenenfalls damit verbundene amtswegige Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gem. § 44a NAG - sowie die Entscheidung über seinen (freilich erst kurz nach Erlassung einer Ausweisungsentscheidung am 23. Mai 2011, dh erst nach dem vorgeworfenen Tatzeitpunkt eingebrachten) Antrag nach § 44 Abs. 4 NAG - im Inland abwarten zu dürfen.

Daher kann ihm der im angefochtenen Straferkenntnis zum Ausdruck kommende Schuldvorwurf jedenfalls nicht gemacht werden. Wäre der Bw seiner Ausreisepflicht nachgekommen, wären nämlich auf Grund der im vorgeworfenen Tatzeitpunkt anzuwendenden Gesetzeslage des NAG seine - für den vorgeworfenen Tatzeitpunkt nicht auszuschließenden - Chancen auf einen Aufenthaltstitel - sei es nun aufgrund seines (wohl schon im Tatzeitpunkt für den Fall einer für ihn negativen Ausweisungsentscheidung geplanten) Antrages gemäß § 44 Abs. 4 NAG oder von Amts wegen im Sinne des § 44a NAG - zunichte gemacht. Ein Verfahren nach dem NAG wäre einzustellen bzw. von Amts wegen gar nicht einzuleiten. In dieser konkreten Zwangslage kann dem Bw die angelastete Tat nicht zum Vorwurf gemacht werden.

 

3.4. Der Berufung war daher stattzugeben, das angefochtene Straferkenntnis aufzuheben und das Strafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 2 VStG einzustellen, weil entschuldigende Umstände vorliegen, die die Strafbarkeit des Bw ausschließen.

 

4. Bei diesem Verfahrensergebnis war dem Bw gemäß § 66 Abs. 1 VStG weder ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vor der belangten Behörde noch ein Kostenbeitrag für das Verfahren vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat vorzuschreiben.

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

Hinweis:

Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einer bevollmächtigten Rechtsanwältin oder einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingebracht werden. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220,- Euro zu entrichten.

Astrid Berger

Beachte:

 

Beschwerde gegen vorstehende Entscheidung wurde abgelehnt.

 

VwGH vom 28. August 2012, Zl.: 2011/21/0207-5

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