Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-730089/2/BP/MB/Jo VwSen-730090/2/BP/MB/Jo

Linz, 24.08.2011

Mitglied, Berichter/in, Bearbeiter/in:                                                                                                                    Zimmer, Rückfragen:

Mag. Dr. Bernhard Pree,

Mag. Dr. Markus Brandstetter                                                                           4A13, Tel. Kl. 15685

E r k e n n t n i s

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Dr. Bernhard Pree über die Berufungen des 1. X1 und der 2. X2, beide StA Türkei, vertreten durch X, Rechtsanwältin in X, gegen die Bescheide der Bezirkshauptmannes des Bezirks Eferding vom 16. Juli 2010, GZ.: Sich40-243-2009 sowie Sich40-242-2009, betreffend die Ausweisungen der Berufungswerber nach dem Fremdenpolizeigesetz, zu Recht erkannt:

 

 

I.       Den Berufungen wird stattgegeben und die angefochtenen           Bescheide ersatzlos aufgehoben.

 

II.     Eine Rückkehrentscheidung ist jeweils auf Dauer unzulässig.

 

 

I.              İtirazın kabul edilmesine ve itiraz edilen kararın tazminsiz ortadan kaldırılmasına.)

 

II.           Geri dönüş kararı uzun sürede geçersizdir.

 

 

Rechtsgrundlage:

Hukuki dayanak:

§ 66 Abs. 4 iVm. § 67a Abs. 1 Z 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG

 

 

 

 

 

Entscheidungsgründe:

 

 

1.1.1. Mit den Bescheiden des Bezirkshauptmannes des Bezirks Eferding vom 16. Juli 2010, GZ.: Sich40-243-2009 und GZ.: Sich40-242-2009, wurde gegen die Berufungswerber (im Folgenden: Bw) auf Basis des § 53 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 – FPG jeweils die Ausweisung angeordnet.

 

Begründend führt die belangte Behörde zunächst zum Sachverhalt aus, dass der Erst-Bw am 2. November 2001 und die Zweit-Bw am 4. März 2008 illegal nach Österreich eingereist seien. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 23. Dezember 2008 wurde die alleinige (asylrechtliche) Ausweisung der Zweit-Bw behoben. Die, von Erst- und Zweit-Bw, gestellten Asylanträge wurden darauffolgend mit 13. bzw. 14. Jänner 2009 rechtskräftig negativ entschieden. Der Aufenthalt der Bw sei somit ab diesem Zeitpunkt nicht mehr rechtmäßig

 

In weitgehender Wiederholung der, die fremdenpolizeiliche Maßnahme der Ausweisung als zulässig ansehenden, Stellungnahme der Sicherheitsdirektion vom 9. Februar 2010, welche im Rahmen des Niederlassungs- und Aufenthaltsverfahrens abgegeben und den Bw anlässlich der Einvernahme am 11. März 2010 zur Kenntnis gebracht wurde, führt die Behörde aus, dass dem Erst-Bw mit 6. Mai 2002 und der Zweit-Bw mit dem 19. Mai 2008 durch Zustellung der erstinstanzlich negativen Asylentscheidungen die Unsicherheit des Aufenthaltes bekannt gewesen sei.

 

Die Zweit-Bw sei erst nach Österreich zum Erst-Bw gekommen, als für den Erst-Bw nur ein ungewisser Aufenthalt gegeben war und somit konnten beide nicht davon ausgehen, weiterhin gemeinsam in Österreich bleiben zu können.

 

Die (standesamtliche) Eheschließung sei erst am 9. April 2008 in Österreich und die kirchliche Trauung in der Türkei im Jahr 2001 erfolgt.

 

Insofern mindere sich der, aufgrund der doch schon längeren Aufenthaltsdauer des Erst-Bw entstandene, soziale Integrationsgehalt bzw. das Familienleben des Erst-Bw, da der Aufenthalt während des Asylverfahrens nur aufgrund von Anträgen, welche sich letztendlich als unberechtigt erwiesen haben, entstanden sei. Die Bw seien sich dieser Unsicherheit bewusst gewesen und durften daher beide nicht von vorneherein damit rechnen, nach einem negativen Ausgang des Asylverfahrens weiterhin in Österreich bleiben zu dürfen.

 

Der Erst-Bw ging von März 2002 bis August 2008 einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mit Unterbrechungen und Dienstgeberwechsel nach. Im Versicherungsdatenauszug scheinen im Dezember 2008 nicht bezahlte Beiträge betreffend BSVG, GSVG, FSVG und SVA d.g.W. Lst. Oö. auf. Von August 2008 bis 1. September 2009 habe der Erst-Bw als Selbstständiger einen Imbiss-Stand betrieben. Das Gewerbe habe der Erst-Bw mit 1. September 2009 ruhend gemeldet. Die Zweit-Bw habe beim Erst-Bw am Kebab-Stand mitgeholfen, jedoch ohne eine nachweisliche Gewerbstätigkeit bzw. sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufweisen zu können.

 

Des Weiteren leben im Herkunftsland der Bw die Eltern und sämtliche Geschwister, was wiederum eine nicht unerhebliche Bindung zur Heimat untermauere. Beide Antragsteller hätten einen Großteil ihres bisherigen Lebens im Herkunftsland verbracht, besuchten eben dort die Grund- bzw. Volksschule und sprechen kurdisch und türkisch. Nachweise über die Absolvierung eines Deutschzertifikates auf Niveau A2 seien nicht erbracht worden. Insofern sei aufgrund des bereits langen Aufenthalts des Erst-Bw die sprachliche Integration besonders des Erst-Bw erheblich geschmälert.

 

Darüber hinaus sei die beabsichtigte Eröffnung einer Pizzeria durch den Erst-Bw in Linz mangels einer Beschäftigungsbewilligung nicht zu Stande gekommen. Somit stehe fest, dass auch weiterhin die, für die Erteilung eines Aufenthaltstitels erforderlichen, geregelten Einkommensverhältnisse nicht gegeben seien.

 

Auch seien die Bw strafrechtlich unbescholten.

 

Der Inhalt der oben bezeichneten Stellungnahme im Niederlassungs- und aufenthaltsverfahren wurde den Bw am 11. März 2010 im Rahmen einer Einvernahme zu Kenntnis gebracht.

 

Der Erst- und die Zweit-Bw führten dahingehend aus, dass kein außerordentliches Rechtsmittel gegen die negativen zweitinstanzlichen Asylgerichtshofserkenntnisse ergriffen werden. Zu ihren persönlichen Verhältnissen gaben sie an, dass aus der Ehe keine Kinder entsprungen seien, sie um die negative Entscheidung der Sicherheitsdirektion im Zuge des Niederlassung- und Aufenthaltsverfahrens wüssten und sich der Rechtswidrigkeit des Aufenthaltes in Österreich und der drohenden Ausweisung bewusst seien, aber dennoch Österreich keinesfalls freiwillig zu verlassen bereit seien.

 

Der Erst-Bw gab weiters an, dass er die geplante Pizzeria in Linz nicht eröffnen habe können, da zwar die Gewerbeberechtigung vorhanden sei, aber eine notwendige Arbeitserlaubnis fehle. Darüber hinaus seien der Erst- und die Zweit-Bw derzeit ohne Einkommen, haben sich aber bei der SV nachweislich versichert und decken ihren Lebensunterhalt aus den Barmitteln eines Bankkredites im Umfang von Euro 7.000,--.

 

Mit Schreiben vom 8. April 2010 legte der Rechtsvertreter der Bw eine Einstellungsbestätigung vom Geschäftsführer der in Bezug stehenden Unternehmung für den Erst-Bw vor, welche beinhaltet, dass er ab Erhalt der Arbeitsbewilligung eine Anstellung im Rahmen der X erhalten werde.

 

1.1.2. In ihren rechtlichen Überlegungen führt die belangte Behörde einleitend aus, dass sie sich den schlüssigen Ausführungen der Sicherheitsdirektion vom 9. Februar 2010 vollinhaltlich anschließe.

 

Darüber hinaus seien auch anlässlich der Einvernahme vom 11. März 2010 keine weiteren neuen Tatsachen hervorgekommen, die eine diesbezüglich gegenteilige Beurteilung hinsichtlich Art. 8 EMRK zu Folge hätten und es war daher eine Ausweisung auszusprechen.

 

1.2. Gegen diesen Bescheid erhoben die Bw durch ihre Rechtsvertretung rechtzeitig Berufung mit Schriftsatz vom 2. August 2010.

 

Eingangs werden darin die Berufungsanträge gestellt, die Berufungsbehörde möge:

a)    Die gegenständlichen Bescheide der Bezirkshauptmannschaft Eferding vom 16. Juli 2010, AZ: Sich40-243-2009, Sich40-242-2009, zugestellt am 20. Juli 2010, dahingehend abändern, dass die gegen die Bw eingeleiteten Ausweisungsverfahren eingestellt und die ausgesprochenen Ausweisungen aufgehoben werden, in eventu

b)    die gegenständlichen Bescheide dahingehend abändern, dass die erstinstanzlichen Bescheide zur Gänze behoben und zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an die Erstinstanz zurückverwiesen werden.

 

Begründend wird u.a. ausgeführt, dass sich die Behörde bei der Begründung der Berufung alleine auf die Stellungnahme der Sicherheitsdirektion stütze und eine eigene Interessensabwägung i.S.d. Art. 8 EMRK fehle, insoferne sei der Bescheid mit (Verfahrens)rechtswidrigkeit behaftet.

 

Selbst im Rahmen dieser Stellungnahme werde dem Erst-Bw eine gewisse berufliche Integration nicht abgesprochen, welche aber durch den Umstand relativiert werden solle, dass der Erst-Bw bereits bei Aufnahme der Erwerbstätigkeit gewusst hätte, dass sein Aufenthalt nur an das Abwarten einer Entscheidung geknüpft wäre. Dem sei entgegen zu halten, dass der Erst-Bw 7 Jahre (beginnend mit 6. Mai 2002) auf eine zweitinstanzliche Entscheidung in seinem Asylverfahren wartete und trotz Urgenz keine zeitige Entscheidung herbeizuführen vermochte.

 

Der Erst-Bw habe diese unverschuldete Wartezeit lediglich dazu genutzt, sich – trotz vorhandener ausländerbeschäftigungsrechtlicher Hürden – eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufzubauen und damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die aushaftenden Sozialversicherungsbeträge seien mittlerweile beglichen und eine Einstellungszusage erwirkt.

 

Die standesamtliche Verehelichung mit der Zweit-Bw erfolgte – unstrittig – erst am 9. April 2008 in Österreich (Wels). Jedoch datiere die kirchliche Trauung mit der Zweit-Bw schon auf das Jahr 2001 in der Türkei zurück und man kenne sich schon länger. Die eheliche Gemeinschaft bzw. die Lebensgemeinschaft bestehe daher schon mehr als 10 Jahre und habe bereits Bestand gehabt, als der Erst-Bw nach Österreich flüchten musste. Die Ehe sei daher entgegen den Ausführungen der Behörde nicht in einem Zeitpunkt des unsicheren Aufenthalts entstanden.

 

Überdies habe der Erst-Bw – wie die Erstbehörde richtigerweise festgestellt hat – trotz des langen Aufenthaltes keine A2 Deutschprüfung absolviert, doch sei dem entgegen zu halten, dass durch die ausgeübte berufliche bzw. geschäftliche Tätigkeit des Erst-Bw gute Deutschkenntnisse vorhanden sind und der Erst-Bw die Prüfung absolvieren könne. Er habe sich zur Prüfung bereits angemeldet. Die Zweit-Bw sei dahingehend noch nicht so lange in Österreich aufhältig, konnte jedoch auch Deutschkenntnisse erwerben und sei in der Lage sich zu verständigen bzw. Sätze zu verstehen.

 

Zum Einwand der Erstbehörde, dass bei den Bw keine geregelten Einkommensverhältnisse vorhanden seien, führt der Erst-Bw aus, dass aufgrund der aufenthaltsrechtlichen Situation eine Beschäftigung schwerlich möglich sei, aber bei Änderung dieser Situation eine Beschäftigung unmittelbar angestrebt werde.

 

Dass im Herkunftsland der Bw noch zahlreiche Familienangehörige leben, werde nicht bestritten, jedoch sei der Erst-Bw seit mittlerweile fast 10 Jahren in Österreich aufhältig und tief verwurzelt. Viele private Bindungen seien geknüpft worden. Überdies befinde sich die Kernfamilie des Erst-Bw (die Ehefrau = Zweit-Bw) ebenfalls in Österreich und es werde geplant bei sicherer Aufenthaltsnahme eine Familie zu gründen.

 

Die Zweit-Bw schließt sich den Ausführungen betreffend den Erst-Bw an und führt aus mit diesem in Österreich ein Familienleben zu führen.

 

2.1. Die belangte Behörde legte zunächst den in Rede stehenden Verwaltungsakt der Sicherheitsdirektion für Oberösterreich vor.

 

Mit 1. Juli 2011 trat das Fremdenrechtsänderungsgesetz, BGBl. I Nr. 38/2011 in wesentlichen Teilen in Kraft. Aus § 9 Abs. 1a FPG in der nunmehr geltenden Fassung ergibt sich, dass der Unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über die Berufung zuständig ist, weshalb der in Rede stehende Verwaltungsakt von der Sicherheitsdirektion – nach In-Krafttreten der Novelle am 1. Juli 2011 – dem Oö. Verwaltungssenat übermittelt wurde.

 

2.2. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde.

 

Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden, weil eine solche nicht erforderlich war, nachdem sich der entscheidungswesentliche Sachverhalt zweifelsfrei aus der Aktenlage ergibt, im Verfahren im Wesentlichen die Beurteilung von Rechtsfragen strittig ist und die Akten erkennen lassen, dass eine weitere mündliche Erörterung eine tiefgreifendere Klärung der Sache nicht erwarten lässt (§ 67d AVG).

 

2.3. Der Oö. Verwaltungssenat geht bei seiner Entscheidung von dem unter den Punkten 1.1.1. und 1.3. dieses Erkenntnisses dargestellten unbestrittenen Sachverhalt aus.

 

2.4. Der Unabhängige Verwaltungssenat ist zur Entscheidung durch eines seiner Mitglieder berufen (vgl. § 67a Abs. 1 Z 1 AVG).

 

3. In der Sache hat der Oö. Verwaltungssenat erwogen:

 

3.1.1. Gemäß § 125 Abs. 14 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 erlassene Ausweisungen gemäß § 53 als Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter, mit der Maßgabe, dass ein Einreiseverbot gemäß § 53 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 damit nicht verbunden ist.

 

3.1.2. Im vorliegenden Fall ist völlig klar, dass die in Rede stehenden Ausweisungen auf Basis des § 53 FPG ("alte Fassung") erlassen wurden, weshalb diese Ausweisungen als Rückkehrentscheidung im Sinne des nunmehrigen § 52 FPG anzusehen und zu beurteilen sind.

 

3.2.1. Gemäß § 52 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, ist gegen einen Drittstaatsangehörigen, sofern nicht anderes bestimmt ist, mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die Rückkehrentscheidung wird mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Berufung gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 66 Abs. 4 AVG auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

 

3.2.2. Im vorliegenden Fall ist zunächst auch von den Bw selbst unbestritten, dass sie derzeit über keinerlei Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügen und somit grundsätzlich unrechtmäßig aufhältig sind. Allerdings ist bei der Beurteilung der Ausweisungen bzw. der Rückkehrentscheidungen auch auf Art. 8 EMRK sowie § 61 FPG Bedacht zu nehmen.

 

3.3.1. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist allerdings ein Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts gemäß Abs. 1 (nur) statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

3.3.2. Gemäß § 61 Abs. 1 FPG ist, sofern durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 2 FPG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

  1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtmäßig war;
  2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
  3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
  4. der Grad der Integration;
  5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;
  6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
  7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl- Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;
  8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltstatus bewusst waren;
  9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 3 FPG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein aufgrund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder 51ff. NAG) verfügen, unzulässig wäre.

 

Gemäß § 125 Abs. 20 FPG gelten, vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes, BGBl. I Nr. 38/2011 vorgenommene Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 66 als Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 61 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter.

 

3.4.1. Im Sinne den zitierten Normen ist eine Interessensabwägung – basierend auf einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung – vorzunehmen.

 

3.4.2. Es ist festzuhalten, dass es gestützt auf die ständige Rechtsprechung der Höchstgerichte zulässig und erforderlich ist, Maßnahmen zu ergreifen, um den unrechtmäßigen Aufenthalt einer Person zu beenden, da ein solcher rechtswidriger Status fraglos dazu geeignet ist, die öffentliche Ordnung eines Staates massiv zu beeinträchtigen. Daraus folgt, dass das diesbezügliche öffentliche Interesse hoch anzusetzen ist und eine Ausweisung grundsätzlich ein nicht inadäquates Mittel darstellt, um einen rechtskonformen Zustand wiederherzustellen. Dies gilt jedoch nur insofern, als die privaten bzw. familiären Interessen im jeweils konkreten Einzelfall nicht als höherrangig anzusehen sind.

 

3.4.3. Im vorliegenden Fall ist zunächst festzuhalten, dass der Erst-Bw und die Zweit-Bw fraglos ein Familienleben im Bundesgebiet führen, welches bereits vor der standesamtlichen Heirat im Jahr 2001 in der Türkei begonnen hatte. Der Begriff der Familie ist weit zu verstehen, er erfasst auch die Beziehung der Ehepartner zueinander, ohne Rücksicht auf Ehelichkeit und tatsächliches Zusammenleben (siehe dazu schon EGMR 13.6.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 719, weiter mN Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht10 (2007) Rz 1432 FN 579). Selbst wenn das Familienleben erst während unsicheren Aufenthalts begründet werden würde, so käme ihm dennoch berücksichtigenswerte, entscheidungsrelevante Bedeutung zu.

 

Grundsätzlich ist also vordringlich ein Eingriff in das Familienleben zu erkennen. Dabei ist festzustellen, dass die jeweiligen Eingriffe in das Familienleben des/der einzelnen Bw auch unmittelbar das andere Familienmitglied beeinträchtigen können und somit bei Ausspruch der Ausweisung nur gegen einzelne Mitglieder auch das Familienleben des jeweils anderen tangiert.

 

3.4.4. Hinsichtlich der Dauer und der Natur des Aufenthalts konnte der Erst-Bw (10 Jahre) auf eine relativ lange Dauer verweisen, wobei der größte Teil davon – wegen des aufrechten Asylverfahrens – grundsätzlich legal war. Es ist aber – der belangten Behörde folgend - anzumerken, dass der Aufenthaltsstatus spätestens nach der erstinstanzlichen Entscheidung im Asylverfahren doch als unsicher angesehen werden musste.

 

Hier ist insbesondere auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen:

 

Demnach hat § 61 Abs. 2 FPG (vergleichbar § 66 Abs. 2 FPG 2005) schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während eines unsicheren Aufenthaltsstatus erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen wäre und ein solcherart begründetes privates bzw. familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte (vgl. auch E 22. Dezember 2009, 2009/21/0348).

 

Der rund 10 Jahre und 9 Monate dauernde Aufenthalt sowie die mehr als 9 Jahre lang kontinuierlich ausgeübte unselbständige Erwerbstätigkeit (in Verbindung mit weiteren Aspekten der erreichten Integration) verleihen den persönlichen Interessen des Fremden am Verbleib im Bundesgebiet ein derart großes Gewicht, dass die Ausweisung gemäß § 66 Abs. 1 FrPolG 2005 - auch bei einem Eingriff nur in das Privatleben - unverhältnismäßig erscheint (vgl. VwGH vom 20. Jänner 2011, 2010/22/0158).

 

3.4.5. Der Erst-Bw ist seit 2. November 2001 in Österreich aufhältig. Dies stellt einen Zeitraum von 9 1/2 Jahren dar. Das Asylverfahren wurde erst mit 14. Jänner 2009 rechtskräftig negativ beendet – also nach einer Verfahrensdauer von mehr als 7 Jahren. Während dieses Zeitraumes hielt sich der Erst-Bw aufgrund des asylrechtlichen Status rechtmäßig in Österreich auf und ging mit Unterbrechungen einer zum Teil selbstständigen, zum Teil unselbstständigen Erwerbstätigkeit nach. Für die Selbstständigkeit wurde sogar eine Gewerbeberechtigung erworben, welche bei Vorliegen der arbeitsmarktrechtlichen Vorschriften die (Wieder)aufnahme der selbstständigen Tätigkeit mit entsprechender Versicherung ermöglicht. Darüber hinaus liegt eine Einstellungszusage des Erst-Bw vor. Insofern kann den Erst-Bw eine gewisse berufliche Integration nicht abgesprochen werden.

 

Auch von einer sozialen Integration kann einerseits aufgrund der langen Aufenthaltsdauer andererseits aufgrund der zahlreichen Unterstützungserklärungen im Akt der Erstbehörde ausgenommen werden, aus denen unzweifelhaft eine, über die bloße berufliche Integration hinausgehende, Integration angenommen werden kann. Die Deutschkenntnisse betreffend liegt zwar kein formaler Abschluss des entsprechenden Kurses auf dem Niveau A2 vor, doch lässt die berufliche Tätigkeit in der Gastronomie, als unselbstständig Erwerbstätiger einerseits und die selbstständige Tätigkeit andererseits, welche mit unzähligen Behördengängen, Vertragsabschlüssen (Miet- und Kaufvertrag) verbunden ist, ein ausreichendens sprachliches Integrationsniveau erkennen.

 

In diesem Fall sind also fraglos die vom VwGH angenommenen Merkmale gegeben, zumal es glaubhaft ist, dass der Erst-Bw nach der langen Abwesenheit von seinem Heimatland dorthin keine intensive Bindung mehr hat, auch wenn ihm aufgrund des Umstandes, dass er doch den größeren Teil seines Lebens dort verbracht hat, eine Reintegration zumutbar sein könnte. Nichts desto trotz überwiegen eindeutig die Bindungen im Bundesgebiet.

 

Eine Interessensabwägung führt also zu dem eindeutigen Schluss, dass im Fall des Erst-Bw im Hinblick auf § 61 FPG eine Ausweisung bzw. nunmehr Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. Darüber hinaus ist noch anzuführen, dass er wie auch seine Gattin völlig unbescholten sind.

 

3.4.6. Die Zweit-Bw weist zwar hinsichtlich der beruflichen Integration, der Dauer des Aufenthalts wie auch in sprachlicher Hinsicht – im Vergleich mit ihrem Ehemann – einen geringeren Grad auf, kann aber zumindest das Bemühen um den Erwerb von sprachlichen Grundkenntnissen ins Treffen führen. In sozialer Hinsicht gilt für sie Vergleichbares wie für ihren Gatten.

 

Nicht zuletzt würde aber eine lediglich gegen sie ausgesprochene Rückkehrentscheidung massiv in ihr Familienleben eingreifen, zumal diese Maßnahme gegen ihren Gatten nicht zulässig verhängt werden kann. Somit ist auch in ihrem Fall festzuhalten, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer als unzulässig anzusehen ist.

 

3.4.8. Schließlich gilt es ins Treffen zu führen, dass beide Bw strafrechtlich unbescholten sind.

 

3.4.9. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass in Hinblick auf § 61 FPG die Voraussetzungen für eine Rückkehrentscheidung in den in Rede stehenden Fällen nicht bestehen und die privaten Interessen die öffentlichen bei einer Gesamtbetrachtung überwiegen. Nicht zuletzt wird auch davon auszugehen sein, dass gemäß § 61 Abs. 2 Z. 9 FPG von einer eher in die Sphäre der Behörden fallenden langen Verfahrensdauer gesprochen werden muss.

 

3.4.10. Im Ergebnis ist also eine Rückkehrentscheidung im Hinblick auf das Privat- und Familienleben der Bw auf Dauer als nicht zulässig zu betrachten.

 

3.5. Es war daher der Berufung stattzugeben, die angefochtenen Bescheide aufzuheben und spruchgemäß zu entscheiden.

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

Hinweis:

1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einer bevollmächtigten Rechtsanwältin oder einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingebracht werden. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

2. Im Verfahren sind Stempelgebühren in Höhe von je 14,30 Euro (Eingabegebühr) (insgesamt 28,60 Euro) angefallen.

 

 

Hukuki itiraz yolu bilgilendirilmesi

İşbu karar karşı olağan kanun yolu açık değildir.

 

Talimat

(Verilen karara karşı kararın tebliğ gününden itibaren altı hafta içinde Anayasa Mahkemesi’nde ve/veya Danıştay‘da itiraz edilebilinir. Yasal istisnalar hariç, şikayetin vekil tayin edilmiş bir avukat tarafından yapılması gerekmektedir. Her itiraz için 220.- Euro dilekçe harcı ödenilir.)  

 

 

 

 

Bernhard Pree

 

 

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