Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-730107/3/SR/ER/Jo

Linz, 18.10.2011

 

E R K E N NT N I S

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Christian Stierschneider über die Berufung des X, geb. X, StA der Türkei, vertreten durch X, Rechtsanwalt in X, gegen den Bescheid des Bezirkshauptmanns von Grieskirchen vom 6. August 2010, AZ.: Sich40-9254, betreffend eine Ausweisung des Berufungswerbers nach dem Fremdenpolizeigesetz, zu Recht erkannt:

 

 

            I.      Der Berufung wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos aufgehoben.

 

        II.      Eine Rückkehrentscheidung ist auf Dauer unzulässig.

 

Rechtsgrundlage:

§ 66 Abs. 4 iVm. § 67a Abs. 1 Z 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG

 

 

 

Entscheidungsgründe:

 

 

1. Mit Bescheid des Bezirkshauptmanns von Grieskirchen vom 6. August 2010, AZ.: Sich40-9254, wurde gegen den Berufungswerber (im Folgenden: Bw) auf Basis der §§ 53 Abs. 1 in Verbindung mit §§ 31 und 66 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 – FPG in der zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Fassung, die Ausweisung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich angeordnet.

 

Nach Wiedergabe der anzuwendenden Rechtsvorschriften führt die belangte Behörde zum Sachverhalt zunächst aus, dass der Bw, ein Staatsangehöriger der Türkei, erstmalig am 12. März 2002 nach Österreich eingereist sei und am 4. April 2002 einen Asylantrag gestellt habe, der mit Bescheid vom 30. April 2003 abgewiesen worden sei. Eine dagegen gerichtete Berufung habe der Asylgerichtshof mit Bescheid vom 25. Jänner 2010 abgewiesen, weshalb sich der Bw seit Zustellung dieses Bescheides nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. Mit Schreiben vom 18. März 2010 sei der Bw zur Ausreise bis längstens 26. März 2010 aufgefordert worden. Da er dieses nicht beachtet habe, sei das Ausweisungsverfahren eingeleitet worden.

Am 31. März 2010 habe der Bw einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 44 Abs. 3 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) in der damals geltenden Fassung gestellt. Aufgrund dieses Antrags habe die Bezirkshauptmannschaft Grieskirchen als für die Vollziehung des NAG zuständige Behörde die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich (SID) gemäß § 44b Abs. 2 NAG eine Stellungnahme eingeholt, der zufolge aufenthaltsbeendende Maßnahmen zulässig seien.

 

Hinsichtlich der Zulässigkeit der Ausweisung hält die belangte Behörde fest, sie gehe davon, dass die Ausweisung aufgrund des Aufenthalts des Bw seit 12. März 2002 in erheblichem Ausmaß in sein Privatleben eingreifen würde. Die aus dem Aufenthalt ableitbare Integration werde aber in ihrem Stellenwert maßgeblich dadurch gemindert, dass sie auf einen Asylantrag zurückzuführen sei, der sich als unbegründet erwiesen habe. Der Bw habe sich ferner seit der erstinstanzlichen Abweisung seines Asylantrags am 30. April 2003 seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein müssen. Darüber hinaus würden sowohl die Frau des Bw als auch seine drei Kinder immer noch im Herkunftsstaat, der Türkei, leben; selbst falls der Kontakt zu seiner Familie abgebrochen sein sollte, sei zu berücksichtigen, dass der Bw 44 Jahre seines Lebens in der Türkei verbracht habe und somit bei seiner Rückkehr auch nach langer Abwesenheitsdauer kein Fremder sei.

Hinsichtlich der Integration am Arbeitsmarkt hält die belangte Behörde fest, dass diese nur aufgrund des Asylantrags gelingen konnte. Der Bw sei im Zeitraum von März 2002 bis März 2009 überwiegend beschäftigt gewesen, wobei es eine längerfristige Unterbrechung von 20. Oktober 2005 bis 31. August 2006 gegeben habe. Seit März 2009 beziehe der Bw überwiegend Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe.

Unter Abwägung der o.g. persönlichen Situation des Bw und den öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen stellt die belangte Behörde fest, dass die Ausweisung zur Erreichung der in Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten und zulässig sei. Die persönlichen Interessen des Bw hätten gegenüber den öffentlichen Interessen im vorliegenden Fall in den Hintergrund zu treten.

 

2. Gegen diesen Bescheid erhob der Bw durch seinen rechtsfreundlichen Vertreter rechtzeitig Berufung mit Schriftsatz vom 13. August 2010. Darin werden die Anträge gestellt, den Ausweisungsbescheid zu beheben und das Ausweisungsverfahren einzustellen oder den angefochtenen Bescheid zu beheben und zur neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen sowie eine mündliche Verhandlung anzuberaumen und durchzuführen.

 

Der Bw bringt in seiner Berufung vor, dass er seit 12. März 2002 in Österreich aufhältig und sein Asylverfahren seit Jänner 2010 rechtskräftig negativ entschieden sei. Er habe zwischenzeitlich einen Antrag auf Erteilung einer humanitären Niederlassungsbewilligung an die Bezirkshauptmannschaft Grieskirchen gestellt. Er sei strafrechtlich unbescholten und von ihm gingen keine Gefahren für die öffentliche Ordnung, Ruhe und Sicherheit aus.

Während seines langen Aufenthalts in Österreich habe er die deutsche Sprache gelernt und habe hier seinen Lebensmittelpunkt begründet. Zur Türkei habe er jeden Bezug verloren und habe keinen Kontakt mehr zu seinem Heimatstaat, auch wenn seine Frau und seine Kinder dort ansässig seien.

Der Bw lebe mit seinem Bruder und dessen Frau an gemeinsamer Adresse, seit er selbst über kein Einkommen und keine staatliche Unterstützung mehr verfüge, werde sein Lebensunterhalt von seinem Bruder und dessen Frau finanziert.

Aufgrund seines Rechtsstatus sei ihm der Zugang zum Arbeitsmarkt derzeit verwehrt, er könne aber jederzeit eine Beschäftigung aufnehmen, sobald ihm eine entsprechende Bewilligung erteilt werde. 

Er sehe seinen Bruder und dessen Frau als seine Kernfamilie an, zumal der Kontakt zu seiner Familie in der Türkei abgebrochen sei.

Ferner vertritt der Bw die Ansicht, dass das Ausweisungsverfahren bis zur Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gehemmt und er diesbezüglich in seinen Rechten verletzt worden sei, zumal er den Antrag auf Erteilung einer humanitären Niederlassungsbewilligung vor Einleitung des Ausweisungsverfahrens gestellt habe.

Abschließend rügt der Bw, dass er von der belangten Behörde nicht einvernommen worden sei und ersucht, diesen Mangel durch persönliche Vorsprache im Berufungsverfahren zu beheben.

Sein Vorbringen zum Antrag auf Erteilung der Niederlassungsbewilligung erhebt der Bw zum integrierenden Bestandteil seiner Vorbringen im gegenständlichen Berufungsverfahren, da darin anhand verschiedener Dokumente seine Integration belegt sei.

 

3. Die belangte Behörde legte zunächst den in Rede stehenden Verwaltungsakt der Sicherheitsdirektion Oberösterreich vor.

 

Mit 1. Juli 2011 trat das Fremdenrechtsänderungsgesetz, BGBl. I Nr. 38/2011 in wesentlichen Teilen in Kraft. Aus § 9 Abs. 1a FPG in der nunmehr geltenden Fassung ergibt sich, dass der Unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über die Berufung zuständig ist, weshalb der in Rede stehende Verwaltungsakt von der Sicherheitsdirektion Oberösterreich – nach Inkrafttreten der Novelle am 1. Juli 2011 – dem Unabhängigen Verwaltungssenat übermittelt wurde.

 

3.1. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde sowie durch weitere, von der belangten Behörde zur Verfügung gestellte Unterlagen zum Niederlassungsverfahren.

 

3.2. Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit Berufung angefochtene Bescheid aufzuheben ist (§ 67d Abs. 2 Z. 1 AVG)

 

Der Oö. Verwaltungssenat geht bei seiner Entscheidung von dem unter den Punkten 1. und 2. dieses Erkenntnisses dargestellten unbestrittenen Sachverhalt aus.

Darüber hinaus stellt der Oö. Verwaltungssenat aufgrund der ergänzenden Unterlagen fest, dass der Bw am 12. März 2002 legal mittels Visum für den Schengenraum nach Österreich eingereist ist; am 23. Juli 2010 erfolgreich die Deutschprüfung auf Niveau A2 abgelegt hat; seine Ehe sich in Scheidung befindet; der Bw über eine formlose Einstellungszusage der X, datiert mit 14. September 2011, verfügt; er mit seinem Bruder, dessen Frau sowie seiner Nichte und seinem Neffen im gemeinsamen Haushalt lebt, wobei diese Personen seinen Lebensunterhalt bestreiten; der Bw anlässlich des Niederlassungsverfahrens sowohl über eine Patenschaftserklärung seines Bruders als auch über eine – nicht von einem Verwandten stammende – Patenschaftserklärung verfügt; er durch eine Selbstversicherung krankenversichert und strafrechtlich unbescholten ist.

 

3.3. Der Unabhängige Verwaltungssenat ist zur Entscheidung durch eines seiner Mitglieder berufen (vgl. § 67a Abs. 1 Z 1 AVG).

 

4. In der Sache hat der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich erwogen:

 

4.1.1. Gemäß § 125 Abs. 14 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 erlassene Ausweisungen gemäß § 53 als Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter, mit der Maßgabe, dass ein Einreiseverbot gemäß § 53 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 damit nicht verbunden ist.

 

4.1.2. Im vorliegenden Fall wurde die Ausweisung auf Basis des § 53 FPG (in der Fassung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011) erlassen, weshalb diese Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne des § 52 FPG in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 anzusehen und zu beurteilen ist.

 

4.2.1. Gemäß § 52 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, ist gegen einen Drittstaatsangehörigen, sofern nicht anderes bestimmt ist, mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die Rückkehrentscheidung wird mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Berufung gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 66 Abs. 4 AVG auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

 

4.2.2. Im vorliegenden Fall ist auch vom Bw selbst unbestritten, dass er über keinerlei Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt und somit grundsätzlich unrechtmäßig aufhältig ist.

Dem Bw ist hinsichtlich seiner Ausführungen zur Rechtswidrigkeit des Ausweisungsbescheids, die mit dem am 31. März 2010 gestellten Antrag gemäß § 44 Abs. 3 NAG, geändert am 16. Juli 2010 auf Grundalge des § 44 Abs. 4 FPG in der damals geltenden Fassung begründet ist, folgendes entgegenzuhalten:     § 81 Abs. 1 NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 38/2011regelt für Verfahren, die bei In-Kraft-Treten dieses Bundesgesetzes anhängig sind, dass diese nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetztes zu Ende zu führen sind. Abweichend von diesem Grundsatz ist in § 81 Abs. 15 NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 38/2011 vorgesehen, dass alle nach In-Kraft-Treten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 122/2009 anhängigen Verfahren gemäß § 44 Abs. 4 nach den Bestimmungen des  Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 122/2009 zu Ende zu führen sind. Aus dem Akt ergibt sich, dass der Bw seinen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung am 16. Juli 2010 auf § 44 Abs 4 NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2009 gestützt hat.

§ 44 Abs. 5 NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2009 sieht vor, dass Anträge gemäß Abs. 4 kein Aufenthalts- oder Bleiberecht nach diesem Bundesgesetz begründen. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Behörde über einen solchen Antrag hat die zuständige Fremdenpolizeibehörde jedoch mit der Durchführung der eine Ausweisung umsetzenden Abschiebung zuzuwarten, wenn [...]

Die Einleitung und Erledigung des Ausweisungsverfahrens während eines anhängigen Niederlassungsverfahrens ist also demnach nicht als rechtswidrig zu betrachten und der Bw kann daraus kein Aufenthalts- oder Bleiberecht ableiten.

 

Allerdings ist bei der Beurteilung der Rückkehrentscheidung sowohl auf Art. 8 EMRK als auch auf § 61 FPG Bedacht zu nehmen.

 

4.3. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist allerdings ein Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts gemäß Abs. 1 (nur) statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Nach § 61 Abs. 1 FPG ist, sofern durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 2 FPG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

1.      die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der        bisherige Aufenthalt des Fremden rechtmäßig war;

2.      das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3.      die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4.      der Grad der Integration;

5.      die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6.      die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7.      Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des      Asyl-          Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8.      die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem   Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren   Aufenthaltstatus bewusst waren;

9.      die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden       zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 3 FPG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein aufgrund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder 51ff. NAG) verfügen, unzulässig wäre.

 

Gemäß § 125 Abs. 20 FPG, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes, BGBl. I Nr. 38/2011 vorgenommene Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 66 als Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 61 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter.

 

4.4. Im Sinne der zitierten Normen ist eine Interessenabwägung – basierend auf einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung – vorzunehmen.

 

Gestützt auf die ständige Rechtsprechung der Höchstgerichte ist es grundsätzlich zulässig und erforderlich, Maßnahmen zu ergreifen, um den unrechtmäßigen Aufenthalt einer Person zu beenden, da ein solcher rechtswidriger Status fraglos dazu geeignet ist, die öffentliche Ordnung eines Staates massiv zu beeinträchtigen. Daraus folgt, dass das diesbezügliche öffentliche Interesse hoch anzusetzen ist und eine Rückkehrentscheidung grundsätzlich ein nicht inadäquates Mittel darstellt, um einen rechtskonformen Zustand wiederherzustellen. Dies gilt jedoch nur insofern, als die privaten bzw. familiären Interessen im jeweils konkreten Einzelfall nicht als höherrangig anzusehen sind.

 

4.4.1. Der belangten Behörde folgend ist, mangels Vorliegens eines Familienlebens im engeren Sinn (vgl. § 2 Abs. 4 Z 12 FPG) im Bundesgebiet, im Wesentlichen eine Interessensabwägung gemäß § 61 Abs. 2 FPG hinsichtlich des Privatlebens des Bw vorzunehmen, wobei insbesondere auch auf die "familiären" Beziehungen zur Familie seines Bruders, das Leben im "Familienverband", seine berufliche und soziale Integration, das Asylverfahren und die lange Aufenthaltsdauer, Bedacht zu nehmen ist.

In Anbetracht seines rund 9 ½ Jahre währenden Aufenthaltes im Bundesgebiet ist dem Bw eine der Dauer seines Aufenthaltes entsprechende Integration zuzugestehen. Dieser Aufenthalt war nachweislich von 12. März 2002 bis zur Zustellung der rechtskräftig negativen Asylerledigung rechtmäßig.

Das Gewicht der aus der Aufenthaltsdauer ableitbaren Integration wird jedoch angesichts der ständigen Judikatur des VwGH dadurch gemindert, als der Aufenthalt des Bw während des Asylverfahrens nur aufgrund eines Antrages, welcher sich letztendlich als unberechtigt erwiesen hat, temporär berechtigt war. Dem Bw musste bewusst sein, dass er ein Privatleben während eines Zeitraumes, in dem er einen "unsicheren" Aufenthaltsstatus hatte, geschaffen hat, (vgl. etwa Erkenntnis vom 08.11.2006, Zahl 2006/18/0344 sowie Zahl 2006/18/0226 ua.). Er durfte nicht von vornherein damit rechnen, nach einem allfälligen negativen Ausgang des Asylverfahrens weiterhin in Österreich bleiben zu dürfen.

Im Hinblick auf den rund 9 ½ Jahre währenden Aufenthalt in Österreich ist im Besonderen auf die die jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abzustellen. Wie folgt wiedergegeben, hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 22. Dezember 2009, GZ 2009/21/0348, einer sozialen Integration, obwohl sie in einem Zeitraum entstanden ist, während dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war, ein nicht unbeachtliches Gewicht beigemessen:

 

Das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich ist in seinem Gewicht gemindert, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (E. vom 22. Oktober 2009, Zl. 2009/21/0293; E. vom 29. September 2009, Zl. 2009/21/0253; E. des VfGH vom 3. März 2008, B 825/07 mit Bezug auf die Urteile des EGMR vom 31. Jänner 2006, RX SX und HX gegen die Niederlande [Beschwerde Nr. 50435/99] und vom 31. Juli 2008, DX OX u.a. gegen Norwegen [Beschwerde Nr. 265/07]). Der EGMR stellt in den angesprochenen Urteilen darauf ab, ob das Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen bewusst waren, der Aufenthaltsstatus eines Familienmitgliedes sei derart, dass der Fortbestand des Familienlebens im Gastland von vornherein unsicher ist. Sei das der Fall, bewirke eine Ausweisung des ausländischen Familienangehörigen nur unter ganz speziellen bzw. außergewöhnlichen Umständen ("in exceptional circumstances") eine Verletzung von Art 8 EMRK (vgl.: E vom 19. Februar 2009, Zl. 2008/18/0721, E. vom 30. April 2009, Zl. 2009/21/0086). In diesem Sinn ist nach der Z. 8 des § 66 Abs. 2 FPG [in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011] aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Annordnung bei der Interessensabwägung darauf Bedacht zu nehmen, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war. Freilich hat die genannte Bestimmung schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte.

 

Im Erkenntnis vom 20. Jänner 2011, Zl. 2010/22/0158, hat der Verwaltungsgerichtshof bei einer im Wesentlichen vergleichbaren Sachlage, jedoch eines knapp über 10 Jahre bestehenden Aufenthaltes, dem persönlichen Interesse des Fremden am Verbleib in Österreich ein solches Gewicht beigemessen, dass eine Ausweisung unzulässig ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat dabei wie folgt ausgeführt:

 

Der Beschwerdeführer verweist auf seine Erwerbstätigkeit und darauf, dass er sich während seines Aufenthaltes in Österreich "in privater Hinsicht sehr gut integriert" habe. Die belangte Behörde hob zwar zu Recht hervor, dass dem Beschwerdeführer bereits nach erstinstanzlicher Abweisung seines Asylantrages die Unsicherheit seines Aufenthaltsstatus bewusst war, er somit nicht mit einem legalen Aufenthalt in Österreich rechnen durfte. Sie ist auch darin im Recht, dass dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. für viele etwa das Erkenntnis vom 6. Juli 2010, 2008/22/0688). Dementsprechend haben Fremde nach Abweisung ihres Asylantrages grundsätzlich den rechtmäßigen Zustand durch Ausreise aus dem Bundesgebiet herzustellen. Demgegenüber vermag der Beschwerdeführer jedoch einen bereits über zehnjährigen Aufenthalt in Österreich für sich ins Treffen zu führen und es stellte die belangte Behörde auch fest, dass er erwerbstätig ist. Diese Umstände verleihen dem persönlichen Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich ein solches Gewicht, dass die Ausweisung unverhältnismäßig erscheint (vgl. zu ähnlichen Fällen etwa die E. vom 26. August 2010, 2010/21/0206 und 2010/21/0009).

 

4.4.2. Mit rund 9 ½ Jahren Dauer kann der Bw auf einen relativ langen, größtenteils rechtmäßigen, Aufenthalt in Österreich verweisen. Bezüglich des von der belangten Behörde ins Treffen geführten unsicheren Aufenthalts des Bw zum Zeitpunkt des Entstehens des Privatlebens ist insbesondere auf die oben zitierte jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen.

 

Zweifelsohne würde durch die Ausweisung in das Privatleben des Bw eingegriffen, zumal er sehr enge Kontakte zu seinem Bruder, dessen Frau, sowie seinem Neffen und seiner Nichte in Österreich pflegt, indem er mit ihnen im gemeinsamen Haushalt lebt und von ihnen finanziell abgesichert wird.

Der Bw ist zum überwiegenden Teil seines Aufenthalts einer legalen, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen. Er Bw verfügt über eine Einstellungszusage, die ihm – zwar formlos – ab Erteilung einer Niederlassungs- und Beschäftigungsbewilligung eine unselbstständige, sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit in Aussicht stellt. Aufgrund der überwiegenden Beschäftigung und der Einstellungszusage kann davon ausgegangen werden, dass eine Integration am Arbeitsmarkt über lange Zeit vorgelegen ist und auch künftig problemlos möglich sein wird. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die im gemeinsamen Haushalt lebenden Verwandten des Bw derzeit für seinen Unterhalt aufkommen und der Bw krankenversichert ist.

 

Es kann dem Bw wohl nach einem rund 9 ½-jährigen Aufenthalt ein hohes Maß an Integration zugemessen werden. Dafür sprechen auch die vom Bw glaubhaft vorgebrachten, mittels Zertifikat des Niveaus A2 dokumentierten und von der Behörde unbestrittenen Deutschkenntnisse.

 

Die soziale Integration des Bw wird glaubhaft durch seine Verwandten sowie durch Patenschaftserklärungen im Niederlassungsverfahren belegt, wodurch maßgebliche Kontakte zu in Österreich ansässigen Personen, darunter auch österreichische Staatsangehörige, evident sind.

 

Nach dem in Rede stehenden Zeitraum ist durchaus nachvollziehbar, dass die Bindung an den Heimatstaat keine relevante Ausprägung mehr erreicht. Demgegenüber ist nicht unerheblich, dass der Bw 44 Jahre in der Türkei gelebt hat und dort seine Frau und seine Kinder weiterhin ansässig sind. Seit der Ausweisungsentscheidung der belangten Behörde hat der Bw im Zuge des Niederlassungsverfahrens aber glaubhaft geltend machen können, dass sich seine Ehe in Scheidung befindet und er keinen Kontakt zu seiner in der Türkei verbliebenen Familie pflegt.

 

Der Bw ist strafgerichtlich unbescholten.

 

Gemäß der oben angeführten Judikatur des VwGH und VfGH ist in diesem Fall hinsichtlich der Frage eines unsicheren Aufenthalts nach § 61 Abs. 2 Z. 8 FPG bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände festzustellen, dass die für die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sprechenden privaten Elemente die des öffentlichen Interesses gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK überwiegen.

 

Nicht zuletzt wird auch davon auszugehen sein, dass gemäß § 61 Abs. 2 Z. 9 FPG von einer eher in die Sphäre der Behörden fallenden langen Verfahrensdauer gesprochen werden muss, zumal das Asylverfahren bis zur rechtskräftigen letztinstanzlichen Entscheidung nahezu acht Jahre gedauert hat.    

 

Die dargelegten Umstände verleihen dem persönlichen Interesse des Bw an einem Verbleib in Österreich ein solches Gewicht, dass die Rückkehrentscheidung unverhältnismäßig ist.

 

4.5. Im Ergebnis ist eine Rückkehrentscheidung im Hinblick auf das Privatleben des Bw auf Dauer unzulässig.

 

4.6. Es war daher der Berufung stattzugeben, der angefochtene Bescheid aufzuheben und spruchgemäß zu entscheiden.

 

5. Da der Bw ausreichend der deutschen Sprache mächtig ist, konnte gemäß      § 59 Abs. 1 FPG von der Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung Abstand genommen werden.

 

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

 

Hinweis:

1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einer bevollmächtigten Rechtsanwältin oder einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingebracht werden. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

2. Im Verfahren sind Stempelgebühren in Höhe von 14,30 Euro (Eingabegebühr) angefallen.

 

 

Mag. Stierschneider

 

 

 

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