Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
FAQs| Sitemap| Weblinks

VwSen-730153/2/BP/Wu VwSen-730154/2/BP/Wu VwSen-730155/2/BP/Wu VwSen-730156/2/BP/Wu VwSen-730157/2/BP/Wu

Linz, 21.09.2011

 

Mitglied, Berichter/in, Bearbeiter/in:                                                                                                                               Zimmer, Rückfragen:

Mag. Dr. Bernhard Pree                                                                                      5A02, Tel. Kl. 15685

E r k e n n t n i s

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Dr. Bernhard Pree über die Berufungen 1. des X, 2. der X, 3. der X, 4. des X sowie 5. X; allesamt StA der Türkei, sämtlich vertreten durch X, gegen die Bescheide des Polizeidirektors von Linz vom 21. April 2011, AZ.: 1003181/FRB, 1069202/FRB, 1009203/FRB, 1022034/FRB sowie 1022036/FRB, betreffend Ausweisungen der  Berufungswerber nach dem Fremdenpolizeigesetz, zu Recht erkannt:

 

 

I.       Der Berufung wird stattgegeben und die angefochtenen        Bescheide werden ersatzlos aufgehoben.

 

II.     Eine Rückkehrentscheidung ist jeweils auf Dauer unzulässig.

 

        

 

 

 

Rechtsgrundlage:

§ 66 Abs. 4 iVm. § 67a Abs. 1 Z 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG

 


Entscheidungsgründe:

 

1.1.1. Mit Bescheiden des Polizeidirektors von Linz vom 21. April 2011,
AZ.: 1003181/FRB, 1069202/FRB, 1009203/FRB, 1022034/FRB sowie 1022036/FRB, wurde gegen die Berufungswerber (im Folgenden Bw) auf Basis des § 53 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 – FPG, in der zum Entscheidungs-zeitpunkt geltenden Fassung, jeweils die Ausweisung angeordnet.

 

Begründend führt die belangte Behörde zunächst zum Sachverhalt aus, dass der Erst-Bw, ein Staatsangehöriger der Türkei, am 25. September 2000 illegal nach Österreich eingereist sei und am 28. September 2000 einen Asylantrag gestellt habe, welchen er allerdings nach der Eheschließung mit einer österreichischen Staatsangehörigen am 3. Oktober 2001 zurückgezogen und das Bundesgebiet verlassen habe. Am 11. März 2002 sei er mittels einer Niederlassungsbewilligung legal in das Bundesgebiet eingereist. Am 18. Jänner 2003 habe die belangte Behörde gegen den Erst-Bw ein auf 5 Jahre befristetes Aufenthaltsverbot wegen Scheinehe erlassen. Die Ehe sei annulliert worden. Einer gegen den Bescheid der belangten Behörde erhobenen Berufung sei nicht stattgegeben worden.

 

Am 27. Juli 2003 habe der Erst-Bw einen zweiten Asylantrag gestellt, der am 8. Oktober 2010 vom Asylgerichtshof gemäß §§ 7 und 8 AsylG rechtskräftig zurückgewiesen worden sei.

 

Die Zweit-Bw sei am 17. April 2005 illegal in das Bundesgebiet eingereist und habe am 29. April 2005 einen Asylantrag gestellt. Am X sei der Fünft-Bw in Linz geboren worden, für den am 23. November 2005 Asyl beantragt worden sei . Beide Anträge seien schlussendlich am 8. Oktober 2010 gemäß §§ 7 und 8 AsylG negativ beschieden worden.

 

Die Dritt-Bw und der Viert-Bw seien am 2. Juni 2002 legal als Familienangehörige mit ihrem Vater (dem Erst-Bw) nach Österreich eingereist. Nachdem ihnen dieser Aufenthaltstitel wegen der Scheinehe des Erst-Bw aberkannt worden sei, hätten sie am 29. Juli 2003 Asylanträge gestellt, die am 8. Oktober 2010 vom Asylgerichtshof gemäß § 11 AsylG rechtskräftig negativ beschieden worden seien. 

 

Mit Schreiben vom 29. Oktober 2010 seien die Bw über die beabsichtigten Ausweisungen informiert worden. In einer Stellungnahme vom 16. November 2011 habe der Rechtsvertreter der Bw ua. angeführt, dass der Erst-Bw das Gymnasium in Xbesucht habe. Er sei derzeit bei der Firma X beschäftigt und komme für den Lebensunterhalt der Familie auf. Die Familie (Erst-Bw, seine Lebensgefährtin und Mutter der gemeinsamen Kinder) würde in einer Mietwohnung in der X gemeinsam leben.

Die Zweit-Bw habe in der Türkei die Volksschule besucht und sich für Deutschkurse angemeldet.

 

Die Kinder würden sehr gut Deutsch sprechen. Die Dritt-Bw habe in Österreich die Hauptschule absolviert. Der Viert-Bw absolviere zur Zeit die letzten Prüfungen für den externen Hauptschulabschluss. Das jüngste Kind besuche den Kindergarten. Der Erst-Bw habe sich auch bereits für die Deutschprüfung angemeldet.

 

In der Türkei bestünde kein soziales Netzwerk; lediglich eine Schwester des Erst-Bw befände sich noch im Herkunftsland. In Österreich hielten sich ua. die Eltern des Erst-Bw und zahlreiche Verwandte auf. Die Eltern der Zweit-Bw befänden sich in Deutschland.

 

Der Stellungnahme seien sämtliche Unterlagen und Unterstützungserklärungen beigefügt.

 

Mit 11. November 2010 hätten die Bw Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels beim Magistrat Linz gestellt.

 

Die belangte Behörde führt weiters aus, dass der Erst-Bw in der Türkei die Grundschule, eine höhere Schule und drei Jahre Universität genossen sowie den Militärdienst geleistet habe. Er sei dort auch in verschiedenen Berufen tätig gewesen und habe den Großteil seines Lebens im Herkunftsland verbracht. Dies gelte auch für die Zweit-Bw, die in der Türkei die Grundschule besucht habe und anschließend als Haushälterin tätig gewesen sei. Ihr Vater besitze in der Türkei Grundstücke und Wohnungen, weshalb die Familie dort auch sicher wohnen könne.

 

Die Dritt-Bw sei im Alter von 13 Jahren nach Österreich eingereist und habe in der Türkei 7 Jahre die Schule besucht. Der Viert-Bw sei im Alter von 9 Jahren nach Österreich gekommen und sei zuvor auch in der Türkei zur Schule gegangen.

 

Erst- und Zweit-Bw könnten keinen Nachweis über absolvierte Deutschprüfungen auf Niveau A 2 vorbringen.

 

Sämtliche Bw seien unbescholten.

 

1.1.2. In ihren rechtlichen Überlegungen führt die belangte Behörde aus, dass aufgrund der langen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet ein gewisses Maß an Integration vorliege, weshalb die Ausweisungen in das Privatleben eingreifen würden. Das Familienleben sei nicht betroffen, da sämtliche Familienangehörigen ausgewisen worden seien.

Nach negativer Finalisierung der Asylverfahren komme den Bw keine Aufenthaltsberechtigung mehr zu. Der Aufenthalt sei daher unrechtmäßig.

 

Die familiäre, soziale und berufliche Integration sei während eines weitgehend unsicheren Aufenthaltsstatus entstanden. Die soziale Integration von Erst- und Zweit-Bw werde auch dadurch geschmälert, dass diese keine Nachweise für Deutschkenntnisse auf Niveau A 2 erbringen könnten.

 

Erst- und Zweit-Bw hätten den Großteil ihres Lebens im Herkunftsland verbracht, weshalb eine Reintegration zumutbar erscheine. Auch die Dritt-Bw sei erst mit 13 Jahren, der Viert-Bw mit 9 Jahren nach Österreich gekommen, hätten davor 7 bzw. 3 Jahre in der Türkei die Schule besucht und seien somit grundsätzlich mit der Kultur und den gesellschaftlichen Gepflogenheiten dort vertraut.

 

Nach Abwägung der angeführten Umstände ergebe sich aus dem festgestellten Sachverhalt, dass unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK die Ausweisung der Bw zulässig sei.

 

1.2. Gegen diesen Bescheid erhoben die Bw durch ihren Rechtsvertreter rechtzeitig Berufung mit Schriftsatz vom 10. Mai 2011.

 

Zunächst wird darin beantragt, die angefochtenen Bescheide dahingehend abzuändern, dass die in Rede stehenden Ausweisungen als auf Dauer unzulässig erklärt würden; oder die Bescheide aufzuheben und zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

 

Begründend wird in der Berufung ausgeführt, dass der Erst-Bw bereits im September 2000, Dritt- und Viert-Bw im Juni 2002 und die Zweit-Bw im April 2005 nach Österreich gekommen seien. Der Fünft-Bw sei schon in Österreich geboren.

 

Seit Juli 2001 gehe der Erst-Bw mit kurzen Unterbrechungen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen nach und stelle damit den Lebensunterhalt der Familie sicher. Derzeit arbeite er bei der Firma X, dies seit 9. März 2006.

 

Die Dritt-Bw habe die Schule in Österreich abgeschlossen. Der Viert-Bw besuche seit November 2008 den Vorbereitungslehrgang für den externen Hauptschulabschluss, wobei ihm dazu noch 2 Prüfungen fehlen würden. Der Fünft-Bw besuche in Österreich den Kindergarten. Sämtliche Kinder sprächen sehr gut Deutsch und hätten keinerlei Beziehungen mehr zur Türkei, wo es für die gesamte Familie keinerlei Perspektiven gäbe.  

 

Auch die Behandlung der Zuckerkrankheit des Erst-Bw sowie der Schilddrüsenprobleme der Zweit-Bw wären im Herkunftsland nicht möglich. Die gesamte Familie sei unbescholten, weshalb eine Abwägung nach § 66 FPG zur Unzulässigkeit der Ausweisung der Bw führen müsse.

 

 

2.1. Die belangte Behörde legte zunächst den in Rede stehenden Verwaltungsakt der Sicherheitsdirektion für Oberösterreich vor.

 

Mit 1. Juli 2011 trat das Fremdenrechtsänderungsgesetz, BGBl. I Nr. 38/2011 in wesentlichen Teilen in Kraft. Aus § 9 Abs. 1a FPG in der nunmehr geltenden Fassung ergibt sich, dass der Unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über die Berufung zuständig ist, weshalb der in Rede stehende Verwaltungsakt von der Sicherheitsdirektion – nach In-Krafttreten der Novelle am 1. Juli 2011 – dem Oö. Verwaltungssenat übermittelt wurde.

 

2.2. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde.

 

Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden, weil eine solche nicht erforderlich war, nachdem sich der entscheidungswesentliche Sachverhalt zweifelsfrei aus der Aktenlage ergibt, im Verfahren im Wesentlichen die Beurteilung von Rechtsfragen strittig ist und die Akten erkennen lassen, dass eine weitere mündliche Erörterung eine tiefgreifendere Klärung der Sache nicht erwarten lässt (§ 67d AVG).

 

Einem diesbezüglichen Berufungsantrag war daher nicht zu folgen.

 

2.3. Der Oö. Verwaltungssenat geht bei seiner Entscheidung von dem unter den Punkten 1.1.1. und 1.2. dieses Erkenntnisses dargestellten völlig unbestrittenen Sachverhalt aus.

 

2.4. Der Unabhängige Verwaltungssenat ist zur Entscheidung durch eines seiner Mitglieder berufen (vgl. § 67a Abs. 1 Z 1 AVG).

 

3. In der Sache hat der Oö. Verwaltungssenat erwogen:

 

3.1.1. Gemäß § 125 Abs. 14 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 erlassene Ausweisungen gemäß § 53 als Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter, mit der Maßgabe, dass ein Einreiseverbot gemäß § 53 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 damit nicht verbunden ist.

 

3.1.2. Im vorliegenden Fall ist völlig klar, dass die in Rede stehenden Ausweisungen auf Basis des § 53 FPG ("alte Fassung") erlassen wurden, weshalb diese Ausweisungen als Rückkehrentscheidungen im Sinne des nunmehrigen § 52 FPG anzusehen und zu beurteilen sind.

 

3.2.1. Gemäß § 52 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, ist gegen einen Drittstaatsangehörigen, sofern nicht anderes bestimmt ist, mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die Rückkehrentscheidung wird mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Berufung gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 66 Abs. 4 AVG auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

 

3.2.2. Im vorliegenden Fall ist zunächst auch von den Bw selbst unbestritten, dass sie über keinerlei Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügen und somit grundsätzlich unrechtmäßig aufhältig sind. Allerdings ist bei der Beurteilung der Ausweisung bzw. der Rückkehrentscheidung auch auf Art. 8 EMRK sowie § 61 FPG Bedacht zu nehmen. 

 

3.3.1. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist allerdings ein Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts gemäß Abs. 1 (nur) statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

3.3.2. Gemäß § 61 Abs. 1 FPG ist, sofern durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 2 FPG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

1.      die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der        bisherige Aufenthalt des Fremden rechtmäßig war;

2.      das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3.      die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4.      der Grad der Integration;

5.      die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6.      die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7.      Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des      Asyl-          Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8.      die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem   Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren   Aufenthaltstatus bewusst waren;

9.      die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden       zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 3 FPG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein aufgrund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder 51ff. NAG) verfügen, unzulässig wäre.

 

Gemäß § 125 Abs. 20 FPG  gelten, vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes, BGBl. I Nr. 38/2011 vorgenommene Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 66 als Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 61 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter.

 

3.4.1. Im Sinne der zitierten Normen ist eine Interessensabwägung – basierend auf einer einzelfallbezogenen  Gesamtbetrachtung – vorzunehmen.

 

3.4.2. Es ist festzuhalten, dass es gestützt auf die ständige Rechtsprechung der Höchstgerichte zulässig und erforderlich ist, Maßnahmen zu ergreifen, um den unrechtmäßigen Aufenthalt einer Person zu beenden, da ein solcher rechtswidriger Status fraglos dazu geeignet ist, die öffentliche Ordnung eines Staates massiv zu beeinträchtigen. Daraus folgt, dass das diesbezügliche öffentliche Interesse hoch anzusetzen ist und eine Ausweisung grundsätzlich ein nicht inadäquates Mittel darstellt, um einen rechtskonformen Zustand wiederherzustellen. Dies gilt jedoch nur insofern, als die privaten bzw. familiären Interessen im jeweils konkreten Einzelfall nicht als höherrangig anzusehen sind.

3.4.3. Im vorliegenden Fall hatte die belangte Behörde festgestellt, dass lediglich das Privatleben der Bw von einer Ausweisung betroffen wäre, zumal ja sämtliche Mitglieder der Kernfamilie von der Maßnahme gleichermaßen betroffen seien, wodurch das Familienleben an sich nicht tangiert sein könne. Insofern ist ihr zu folgen; allerdings mit dem Bemerken, dass die jeweiligen Eingriffe in das Privatleben des / der einzelnen Bw auch unmittelbar die anderen Familien-mitglieder zu beeinträchtigen geeignet sind. Obwohl der Erst- und die Zweit-Bw offenbar geschieden sind und sich als Lebensgefährten bezeichnen, ist festzuhalten, dass dennoch ein gemeinsamer Haushalt besteht, in dem auch die gemeinsamen Kinder leben.

 

3.4.4. Hinsichtlich der Dauer und der Natur des Aufenthalts können der Erst-Bw (rund 10 Jahre), die Zweit-Bw (über 6 Jahre); die Dritt- und der Viert-Bw (9 Jahre) auf eine relativ lange Dauer verweisen, wobei der größte Teil davon – wegen der aufrechten Asylverfahren – grundsätzlich legal war. Hier ist allerdings anzumerken, dass gegen den Erst-Bw ein auf fünf Jahre befristetes Aufenthaltsverbot bestand (ab dem Jahr 2003), was ihm die grundsätzliche Unsicherheit des Aufenthalts im Bundesgebiet verdeutlichen musste.

 

Für den Fünft-Bw, der schon in Österreich zur Welt kam, erstreckt sich dessen Aufenthalt über die gesamte Lebensdauer.

 

Hinsichtlich des allfälligen unsicheren Aufenthalts der Bw ist hier aber auch insbesondere auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen. Demnach hat der dem § 61 Abs. 2 FPG vergleichbare § 66 Abs. 2 FrPolG 2005 schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während eines unsicheren Aufenthaltsstatus erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen wäre und ein solcherart begründetes privates bzw. familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte (vgl. auch E 22. Dezember 2009, 2009/21/0348).

Der rund 10 Jahre und 9 Monate dauernde Aufenthalt sowie die mehr als 9 Jahre lang kontinuierlich ausgeübte unselbständige Erwerbstätigkeit (in Verbindung mit weiteren Aspekten der erreichten Integration) verleihen den persönlichen Interessen des Fremden am Verbleib im Bundesgebiet ein derart großes Gewicht, dass die Ausweisung gemäß § 66 Abs. 1 FrPolG 2005 - auch bei einem Eingriff nur in das Privatleben - unverhältnismäßig erscheint (vgl. VwGH vom 20. Jänner 2011, 2010/22/0158).

 

3.4.3. Wie sich aus dem Sachverhalt ergibt, befindet sich der Erst-Bw schon seit 10 Jahren im Bundesgebiet, wo er nicht nur beinahe durchgängig einer Beschäftigung nachging, ein Einkommen bezieht und sozialversichert ist, sondern auch seinen Wohnsitz gemeldet hat. Die oa. Judikatur des VwGH ist hier also einschlägig. Angesichts von 3 zu betreuenden Kindern kann es der Zweit-Bw nicht als negativ angerechnet werden, dass sie ihre berufliche Integration nicht vorangetrieben hat.

 

Bei den Kindern nimmt vor allem die soziale Integration einen hohen Stellenwert ein. Die Dritt-Bw besuchte im Bundesgebiet die Hauptschule und spricht wie der Viert-Bw sehr gut Deutsch, der ebenfalls um den Abschluss der mittleren Schulstufe bemüht ist. Die sozialen Kontakte der Familie werden durch zahlreiche Unterstützungserklärungen dokumentiert. Der Fünft-Bw, der in Österreich geboren wurde und hier den Kindergarten besucht, findet seine sozialen Kontakte über die familiären hinaus zweifelsfrei auch in Österreich.

 

3.4.5. Auch, wenn der belangten Behörde durchaus zu folgen ist, dass eine Reintegration – von Erst-Bw und Zweit-Bw – im Herkunftsland durchaus zumutbar erschiene, ist dennoch darauf hinzuweisen, dass dies im Fall der Kinder schon schwieriger sein dürfte.

 

Hinsichtlich der ins Treffen geführten Diabeteserkrankung des Erst-Bw und der Schilddrüsenprobleme der Zweit-Bw ist ebenfalls wieder auf die Judikatur des VwGH hinzuweisen.

 

Wenn für den Fremden keine Aussicht besteht, sich in seinem Heimatland oder in einem anderen Land – sollte ein solches als Zielort überhaupt in Betracht kommen – außerhalb Österreichs der für ihn notwendigen Behandlung unterziehen zu können, kann das – abhängig von den dann zu erwartenden Folgen – eine maßgebliche Verstärkung des persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich darstellen (vgl. VwGH vom 27. März 2007, 2006/21/0165, vom 28. Juni 2007, 2007/21/0163 bis 167 und vom 24. Oktober 2007, 2006/21/0296 bis 0300).

 

Die bloße Reduktion der Ausführungen eines Bescheides auf die Frage der Reisefähigkeit – verbunden mit allgemeinen Darstellungen der Situation eines Drittstaates, ohne diese in konkrete Beziehung zur individuellen Situation der Beschwerdeführer zu setzen – wird den Erfordernissen an die mängelfreie Begründung eines Bescheides nicht gerecht (vgl. VwGH vom 17. Mai 2009, 2008/21/060). 

 

Zuckerkrankheit oder die nicht näher konkretisierten Probleme der Schilddrüse sind grundsätzlich in der Türkei behandelbar und auch wohl im konkreten Fall der Bw – ein entsprechendes Einkommen bzw. einen minimalen sozialen Schutz vorausgesetzt – für die Bw zugänglich. Es handelt sich dabei um keineswegs seltene Krankheitsbilder, deren Behandlung auch keinen überdurchschnittlichen medizinischen bzw. finanziellen Aufwand bedeutet. Diesfalls wäre also der Berufung nicht zu folgen.

 

3.4.6. Gemäß der oben angeführten Judikatur des VwGH ist im Fall des Erst-Bw nicht mehr die Frage eines unsicheren Aufenthalts nach § 61 Abs. 2 Z. 8 FPG näher zu erörtern, was in Hinblick auf das reflexiv wirkende Privat- bzw. Familienleben auch für die restlichen Bw gelten muss.

 

Bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände ist sohin festzustellen, dass die für die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sprechenden Elemente die des öffentlichen Interesses gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK überwiegen.

 

Nicht zuletzt wird auch davon auszugehen sein, dass gemäß § 61 Abs. 2 Z. 9 FPG von einer eher in die Sphäre der Behörden fallenden langen Verfahrensdauer gesprochen werden muss.

 

3.4.7. Im Ergebnis ist also eine Rückkehrentscheidung im Hinblick auf das Privatleben der Bw auf Dauer als nicht zulässig zu betrachten.

 

3.5. Es war daher der Berufung stattzugeben, die angefochtenen Bescheide aufzuheben und spruchgemäß zu entscheiden.

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

 

Hinweis:

1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einer bevollmächtigten Rechtsanwältin oder einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingebracht werden. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

2. Im Verfahren sind Stempelgebühren in Höhe von 71,50 Euro (Eingabegebühr) angefallen.

 

 

 

 

Bernhard Pree

 

 

 

DruckersymbolSeite drucken
Seitenanfang Symbol Seitenanfang
www.uvs-ooe.gv.at| Impressum