Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-730484/6/BP/MZ/Jo

Linz, 23.01.2012

 

E r k e n n t n i s

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Dr. Bernhard Pree über die Berufung des X, StA von Ghana, vertreten durch RA X, gegen den Bescheid des Polizeidirektors von Linz vom 17. Jänner 2011, AZ: 1069639/FRB, betreffend einer Ausweisung nach dem Fremdenpolizeigesetz 2005, zu Recht erkannt:

 

 

I.       Der Berufung wird stattgegeben und der bekämpfte Bescheid        ersatzlos behoben.

 

II.     Gleichzeitig wird festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung      gegen den Berufungswerber auf Dauer unzulässig ist.

 

 

Rechtsgrundlagen:

§ 125 Abs. 14 iVm. §§ 52 und 61 des Fremdenpolizeigesetzes 2005, BGBl I 2005/100 idF BGBl I 2011/38

§ 66 Abs. 4 iVm § 67a Abs. 1 Z 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG
Entscheidungsgründe:

 

1.1. Mit Bescheid des Polizeidirektors von Linz vom 17. Jänner 2011, AZ: 1069639/FRB, wurde über den Berufungswerber (im Folgenden: Bw) auf Basis des § 53 Abs. 1 iVm § 31 Abs. 1 und 1a sowie § 66 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 in der zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Fassung eine Ausweisung verfügt.

 

Zum Sachverhalt führt die belangte Behörde aus, aus der Aktenlage gehe hervor, dass der Bw am 11. Februar 2003 illegal nach Österreich eingereist sei und am selben Tag einen Asylantrag gestellt habe. Das Asylverfahren sei am 9. Dezember 2010 gemäß §§ 7 und 8 Asylgesetz rechtskräftig negativ entschieden worden. Mit Schreiben vom 23. Dezember 2010 sei dem Bw mitgeteilt worden, dass beabsichtigt sei, ihn auszuweisen und ihm diesbezüglich Parteiengehör gewehrt werde.

 

In einer Stellungnahme habe der Bw einen GSVG-Werkvertrag vom 1. März 2006, eine Honorar-Gutschrift vom 30. November 2010, eine Teilnahmebestätigung eines Deutschkurses, eine Teilnahmebestätigung Deutsch als Fremdsprache IV vom 31. März 2004 sowie zwei Unterstützungserklärungen vorgelegt. Zudem habe der Bw ersucht, die Behörde möge aufgrund der dargelegten beruflichen und sozialen Integration von einer Ausweisung Abstand nehmen und feststellen, dass die Ausweisung auf Dauer unzulässig sei.

 

Zur Rechtslage führt die belangte Behörde nach Wiedergabe der §§ 53 Abs. 1, 31 Abs. 1, 31 Abs. 1a und 66 Abs. 1 bis 3 FPG – verkürzt – aus, dass die Ausweisung, nachdem sich der Bw nun seit fast acht Jahren in Österreich aufhalte, einen nicht unerheblichen Eingriff in sein Privatleben bedeuten möge. Dieser sei allerdings dadurch zu relativieren, dass der Aufenthalt auf Rechtsgrundlage eines offensichtlich unbegründeten Asylantrags beruhe, und der Bw nach der am 25. Juni 2003 in erster Instanz erfolgten Abweisung des Antrags nicht von vornherein damit rechnen durfte, weiterhin in Österreich bleiben zu können.

 

Familiäre Beziehungen zur Republik Österreich habe der Bw nicht behauptet und gingen auch aus der Aktenlage nicht hervor. Im Heimatland würden sich hingegen die Gattin des Bw sowie dessen vier Kinder befinden. Der Bw sei etwa im Alter von 40 Jahren nach Österreich eingereist. Er habe somit den überwiegenden Teil seines Lebens in Ghana verbracht, sei dort schulisch gebildet worden und selbst von X bis X als Volksschullehrer tätig gewesen.

 

Aus den der Stellungnahme des Bw beiliegenden Unterlagen gehe hervor, dass der Bw im November 2010 steuerfrei als Kleinunternehmer EUR 365,- verdient habe. Dem Versicherungsdatenauszug zufolge habe der Bw während des gesamten Aufenthalts in Österreich ausschließlich von 2. Juni 2008 bis 2. September 2008 eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit als geringfügig Beschäftigter ausgeübt. Die Wohnung in der X werde dem Bw von der Volkshilfe zur Verfügung gestellt. Weiters beziehe er, seit er nach Österreich eingereist sei, Leistungen aus der Grundversorgung. Es werde daher Verpflegung, Unterkunft, Krankenversicherung, Bekleidungshilfe sowie Geld für Freizeitaktivitäten aus öffentlicher Hand gewährleistet. Von einer beruflichen oder sozialen Verfestigung, die eine "gelungene Integration" erkennen lassen, könne daher nicht gesprochen werden.

 

Ferner halte sich der Bw seit 10. Dezember 2010 insofern rechtswidrig im Bundesgebiet auf, als ihm seit diesem Zeitpunkt weder ein Einreisetitel nach dem FPG noch ein Aufenthaltstitel nach dem NAG erteilt wurde. Bereits ein mehrmonatiger unrechtmäßiger Aufenthalt gefährde die öffentliche Ordnung in hohem Maße und stelle einen gravierenden Verstoß gegen die österreichische Rechtsordnung dar. Die Ausweisung sei daher nicht nur zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten und somit im Lichte des § 66 Abs. 1 FPG zulässig, sondern auch unter Beachtung der Bestimmungen des § 66 Abs. 2 und 3 FPG.

 

1.2. Gegen diesen – am 20. Jänner 2011 zugestellten – Bescheid erhob der Bw im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung mit Schreiben vom 28. Jänner 2011, zur Post gegeben am gleichen Tage, rechtzeitig Berufung.

 

Darin bringt der Bw – auf die für dieses Verfahren relevanten Punkte verkürzt – vor, dass er auf die Dauer des Asylverfahrens keinen Einfluss nehmen konnte und ihm deshalb der unsichere Aufenthalt nicht negativ angelastet werden könne. Er spreche deutsch, habe dargelegt, dass er in seine Heimat keine Bindungen mehr habe und dass er für seinen Lebensunterhalt in Österreich als Zeitungskolporteur zur Gänze aufkommen könne. Weiters habe der Bw einen großen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich, welcher sich für den weiteren Verbleib im Lande einsetze.

 

Bei richtiger rechtlicher Beurteilung hätte somit eine inhaltlich anders lautende Entscheidung ergehen müssen. Der Bw stellt daher die Anträge, die Berufungsbehörde möge den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, dass das gegen ihn eingeleitete Ausweisungsverfahren eingestellt und die ausgesprochene Ausweisung aufgehoben wird, in eventu den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, dass der erstinstanzliche Bescheid zur Gänze behoben und zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an die Erstinstanz zurückverwiesen werde.

 

2.1.1. Die belangte Behörde legte zunächst den in Rede stehenden Verwaltungsakt der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vor.

 

Mit Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom 5. April 2011, Zl E1/2613/2011, wurde der Berufung keine Folge gegeben und der angefochtene Bescheid bestätigt.

 

Mit Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 19. August 2011, GZ.: BMI-1040393/0002-II/3/2011, wurde der Bescheid der Sicherheitsdirektion des Bundeslandes Oberösterreich gemäß § 68 Abs. 4 Z 1 AVG wegen Unzuständigkeit der bescheiderlassenden Behörde von Amts wegen für nichtig erklärt.

 

2.1.2. Mit 1. Juli 2011 trat das Fremdenrechtsänderungsgesetz, BGBl I 2011/38, in wesentlichen Teilen in Kraft. Aus § 9 Abs. 1a FPG in der nunmehr geltenden Fassung ergibt sich, dass die Unabhängigen Verwaltungssenate zur Entscheidung über Berufungen gegen Rückkehrentscheidungen zuständig sind. Gemäß § 125 Abs. 14 FPG in der zitierten Fassung gelten "[v]or Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 erlassene Ausweisungen gemäß § 53 […] als Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter mit der Maßgabe, dass ein Einreiseverbot gemäß § 53 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 damit nicht verbunden ist."

 

Da im ggst Fall vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 eine Ausweisung gemäß § 53 erlassen wurde, ist diese nunmehr als Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG idF BGBl. I Nr. 38/2011 anzusehen, weshalb gemäß § 9 Abs. 1a leg cit eine Zuständigkeit der Unabhängigen Verwaltungssenate zur Entscheidung über das Rechtsmittel gegeben ist, und der in Rede stehende Verwaltungsakt zuständigkeitshalber von der Sicherheitsdirektion des Bundeslandes Oberösterreich dem Oö. Verwaltungssenat übermittelt wurde.

 

2.2. Der Oö. Verwaltungssenat hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsakt, Einsichtnahme in das Elektronische Kriminalpolizeiliche Informationssystem, Einholung eines Versicherungsdatenauszugs sowie durch Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister.

 

Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden, nachdem sich der entscheidungswesentliche Sachverhalt zweifelsfrei aus der Aktenlage ergibt, im Verfahren im Wesentlichen die Beurteilung von Rechtsfragen strittig ist und die Akten erkennen lassen, dass eine weitere mündliche Erörterung eine tiefgreifendere Klärung der Sache nicht erwarten lässt (§ 67d AVG).

 

2.3.  Der Oö. Verwaltungssenat geht bei seiner Entscheidung von dem unter Punkt 1.1. dieses Erkenntnisses dargestellten, im Wesentlichen unstrittigen Sachverhalt aus.

 

2.4. Der Oö. Verwaltungssenat ist zur Entscheidung durch eines seiner Mitglieder berufen (vgl § 67a Abs. 1 Z 1 AVG).

 

3. In der Sache hat der Oö. Verwaltungssenat erwogen:

 

3.1. Gemäß § 125 Abs. 14 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 – FPG , BGBl I 2005/100 in der Fassung BGBl I 2011/38, gelten "[v]or Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 erlassene Ausweisungen gemäß § 53 […] als Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter mit der Maßgabe, dass ein Einreiseverbot gemäß § 53 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 damit nicht verbunden ist."

 

Gemäß § 52 Abs. 1 FPG ist "[g]egen einen Drittstaatsangehörigen […], sofern nicht anderes bestimmt ist, mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die Rückkehrentscheidung wird mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Berufung gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 66 Abs. 4 AVG auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält."

 

Gemäß § 61 Abs. 1 FPG ist, sofern durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben eines Fremden eingegriffen wird, die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 2 FPG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

1.      die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der        bisherige Aufenthalt des Fremden rechtmäßig war;

2.      das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3.      die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4.      der Grad der Integration;

5.      die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6.      die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7.      Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des      Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8.      die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem   Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren   Aufenthaltstatus bewusst waren;

9.      die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden       zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 3 FPG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein aufgrund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder 51ff. NAG) verfügen, unzulässig wäre.

 

3.2. Vor dem Hintergrund obiger Ausführungen gilt es daher zuvorderst, die Zulässigkeit des Eingriffs in das Privat- und Familienleben des Bw dem Grunde nach zu prüfen. Dabei ist auf die von Art. 8 EMRK geschützten Interessen des Bw sowie § 61 FPG Bedacht zu nehmen.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist ein Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung der Rechte gemäß Abs. 1 (nur) statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

3.3. Im Sinne der zitierten Normen ist eine Interessensabwägung – basierend auf einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung – vorzunehmen.

 

Vorweg ist festzuhalten, dass es nach der ständigen Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts grundsätzlich zulässig und erforderlich ist, Maßnahmen zu ergreifen, um den unrechtmäßigen Aufenthalt einer Person zu beenden, da ein solcher rechtswidriger Status fraglos dazu geeignet ist, die öffentliche Ordnung eines Staates massiv zu beeinträchtigen. Daraus folgt, dass das diesbezügliche öffentliche Interesse hoch anzusetzen ist und die Verbringung einer Person außer Landes grundsätzlich ein nicht inadäquates Mittel darstellt, um einen rechtskonformen Zustand wiederherzustellen. Dies gilt jedoch nur insofern, als die privaten bzw familiären Interessen im jeweils konkreten Einzelfall nicht als höherrangig anzusehen sind.

 

3.4. Vor diesem Hintergrund kann der belangten Behörde nicht gefolgt werden, wenn sie davon ausgeht, dass eine Subsumtion des gegenständlichen Sachverhalts unter die Tatbestandselemente des § 61 Abs. 2 FPG 2005 nicht zu einem unzulässigen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Bw führt:

 

3.4.1.1. Einen wesentlichen Punkt bei der vorzunehmenden Rechtsgüterabwägung stellt die Schutzwürdigkeit des Privatlebens dar. Wie sich unter anderem aus dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 22. Dezember 2009, 2009/21/0348, ergibt, kann unter gewissen Umständen das Privatleben eines Bw alleine eine positive Gesamtbeurteilung nach sich ziehen. Dem Höchstgericht zufolge hat der dem § 61 Abs. 2 FPG 2005 (neu) vergleichbare § 66 Abs. 2 FPG 2005 (alt) schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während eines unsicheren Aufenthaltsstatus erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen wäre und ein solcherart begründetes privates bzw familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte.

 

Im Sinne dieser Ausführungen geht der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ab einer Aufenthaltsdauer von etwa 10 Jahren, fast durchgehender erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit sowie weiterer Integrationsschritte das persönliche Interesse eines Fremden am Verbleib im Bundesgebiet ein derart großes Gewicht erlangt, dass eine Ausweisung – auch bei einem Eingriff nur in das Privatleben – unverhältnismäßig erscheint (vgl etwa VwGH 20.1.2011, 2010/22/0158).

 

3.4.1.2. Im konkreten Fall ist der Bw nunmehr seit knapp 9 Jahren in der Republik Österreich aufhältig. Hinzu tritt, dass er, wie dem Akt zu entnehmen ist, die deutsche Sprache erlernt hat und auch strafrechtlich unbescholten ist. Weiters setzen sich verschiedene Personen für den Weiterverbleib des Bw in Österreich ein. Der Großteil der vom Verwaltungsgerichtshof herausgearbeiteten Kriterien für den Verbleib von Fremden im Inland wird vom Bw daher im Wesentlichen erfüllt. Allein aufgrund der zitierten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung erweist sich eine Ausweisung dessen dennoch nicht als unverhältnismäßiger Eingriff in das Privatleben: Der Bw hat nämlich während des gesamten, sehr langen Aufenthaltszeitraums lediglich in stark untergeordneter Form am Erwerbsleben teilgenommen, obwohl ihm dies aufgrund der Rechtslage durchaus möglich gewesen wäre.

 

3.4.2.1. Erst eine Zusammenschau mit der jüngeren Judikatur des Verfassungsgerichtshofes führt zum Ergebnis, dass eine Ausweisung des Bw diesen in seinem Recht auf Privat- und Familienleben verletzen würde.

 

Im Erkenntnis VfSlg 19.203/2010 beschäftigt sich das Höchstgericht mit einer bei der Einreise vier-, nunmehr fünfköpfigen türkischen Familie. Die Beschwerdeführer (im Folgenden: Bf) reisten am 18. März 2002 gemeinsam nach Österreich ein. Der Bf 1 stellte am 20. März 2002 einen Asylantrag und die Bf 2, 3 und 4 Asylerstreckungsanträge.

 

Mit Entscheidungen des Asylgerichtshofes vom 5. Februar 2009 wurden die Beschwerden gegen die erstinstanzlich negativen Bescheide abgewiesen.

 

Mit Bescheiden der Bundespolizeidirektion Linz vom 4. Juni 2009 wurden alle Bf gemäß § 53 Abs. 1 FPG aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Den dagegen erhobenen Berufungen wurde mit den in Folge beim Verfassungsgerichtshof angefochtenen Bescheiden der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich keine Folge gegeben.

 

Aus dem den Bf 1 (Familienvater) betreffenden angefochtenen Bescheid geht hervor, dass er sich seit ca 8 Jahren und 3 Monaten im Bundesgebiet aufhalte, und dass aufgrund der Tatsache, dass er mit Gattin und den drei gemeinsamen Kindern in Österreich lebe, Verwandte in Österreich habe, er Deutschkurse absolviert habe sowie Unterstützungsschreiben vorweisen könne und einen aufschiebend bedingten Dienstvertrag zur Vorlage gebracht habe, eine diesen Umständen entsprechende Integration zuzugestehen sei und in erheblicher Weise in das Privat- und Familienleben eingegriffen werde.

 

Das Gewicht der aus der Aufenthaltsdauer ableitbaren Integration werde jedoch angesichts der ständigen Judikatur des VwGH maßgebend dadurch gemindert, als der Aufenthalt während des Asylverfahrens nur aufgrund eines Antrages, welcher sich letztendlich als unberechtigt erwiesen hat, temporär berechtigt war. Es sei dem Bf bewusst gewesen, dass er ein Privat- und Familienleben während dieses Zeitraumes geschaffen habe, indem er einen "unsicheren" Aufenthaltsstatus hatte. Er durfte daher nicht von vornherein damit rechnen, nach einem allfälligen negativen Ausgang des Asylverfahrens weiterhin in Österreich bleiben zu dürfen.

 

Überdies sei aus der Aktenlage ersichtlich, dass der Bf während seines bisherigen Aufenthaltes in Österreich noch keiner beruflichen Tätigkeit nachgegangen sei und seit dem 2. Mai 2004 durchgehend durch die Grundversorgung des Landes Oberösterreich unterstützt werde.

 

Auch wenn der Bf einen mit Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitsberechtigung aufschiebend bedingten Dienstvertrag zur Vorlage gebracht habe, sei es eine unbestreitbare Tatsache, dass er bis dato noch keinerlei berufliche Integration vorweisen könne. Dem offenkundigen Bemühen um eine Beschäftigung sei jedoch zu entgegnen, dass daraus keine Rückschlüsse "für eine eventuelle fixe Anstellung nach Abschluss des Probemonats" gezogen werden könnten.

 

Des Weiteren scheine im Strafregister der Republik Österreich über den Bf eine Verurteilung vom 25.04.2005 zu einer Freiheitsstrafe von 3 Wochen, bedingt auf eine Probezeit von 3 Jahren, wegen des Vergehens nach § 223 Abs. 2 StGB auf.

 

Einer Würdigung sei zudem unterzogen worden, dass der Bf in einem Alter von 30 Jahren in das Bundesgebiet eingereist sei und somit den überwiegenden Teil seines Lebens im Heimatland verbracht habe. In der Türkei würden sich nach wie vor dessen Vater, zwei Schwestern, Schwiegereltern und drei Geschwister der Gattin befinden. Der Bf habe im Heimatland eine Schulausbildung genossen bzw. als Hilfsarbeiter gearbeitet, weshalb ein familiäres und soziales Netzwerk bestehe und ausgeschlossen werden könne, dass der Bf und seine Familie dort völlig isoliert leben müssten. Die bei einem wirtschaftlichen Neubeginn in der Türkei zu besorgenden Schwierigkeiten seien im öffentlichen Interesse in Kauf zu nehmen.

 

Der Bf halte sich seit ca 1 Jahr und 4 Monaten illegal in Österreich auf. Bereits ein mehrmonatiger unrechtmäßiger Aufenthalt gefährde die öffentliche Ordnung in hohem Maße, die Ausweisung sei demnach zur Wahrung der öffentlichen Ordnung dringend geboten.

 

Der Verfassungsgerichtshof gelangt bei der Prüfung des angefochtenen Bescheides zum Ergebnis, dass der belangten Behörde, wenn diese von einem zulässigen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Bf. ausgeht, ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler der belangten Behörde unterlaufen ist:

 

"Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in VfSlg 18.223/2007 dargelegt hat, ist die zuständige Fremdenpolizeibehörde stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art. 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In der zitierten Entscheidung wurden vom Verfassungsgerichtshof auch unterschiedliche […] Kriterien aufgezeigt, die bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht.

 

[…] Im Lichte dieser Kriterien erweist sich aber die von der Behörde vorgenommene Abwägung iSd Art8 EMRK als fehlerhaft.

 

Wie die belangte Behörde zunächst zutreffend festgestellt hat, halten sich die Beschwerdeführer rechtswidrig im Bundesgebiet auf, weshalb die Ausweisungen - unter Beachtung des §66 Abs1 FPG - auf §53 Abs1 FPG gestützt wurden.

 

Im Ergebnis ist die belangte Behörde zur Auffassung gelangt, dass nach Abwägung aller betroffenen Interessen die Erlassung der Ausweisungen dringend geboten und daher zulässig sei. […] Die belangte Behörde hat - unter Zugrundelegung einer Gesamtbetrachtung und der Lage des Falles - zwar dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens die persönlichen Interessen der Beschwerdeführer gegenübergestellt, die Interessen jedoch im Ergebnis in verfassungswidriger Weise abgewogen.

 

[…] Obwohl die belangte Behörde nämlich zutreffend von einer im hohen Maße stattgefundenen Integration der Familie ausgeht (u.a. auf Grund der langen Aufenthaltsdauer der Familie in Österreich, des mehrjährigen Schulbesuchs der minderjährigen Kinder, der guten Deutschkenntnisse der gesamten Familie), weshalb durch die Ausweisungen auch "in erheblicher Weise" in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer eingegriffen werde, sieht sie den Effekt der Integration jedoch weitgehend dadurch gemindert, als der Aufenthalt der Beschwerdeführer "während des Asylverfahrens nur aufgrund eines Antrages, welcher sich letztlich als unberechtigt erwiesen hat, temporär berechtigt war". Die belangte Behörde berücksichtigt nicht, dass - anders als in Fällen, in denen die Integration auf einem nur durch Folgeanträge begründeten unsicheren Aufenthaltsstatus basierte (vgl. zB VfGH 12.6.2010, U614/10) - im gegenständlichen Fall die Integration der Beschwerdeführer während ihrer einzigen Asylverfahren, welche für die Bf. 1, 2, 3 und 4 sieben Jahre (in denen keine einzige rechtskräftige Entscheidung ergangen ist) dauerten, erfolgte. Dass dies auf eine schuldhafte Verzögerung durch die Beschwerdeführer zurückzuführen wäre, wurde von der belangten Behörde weder dargestellt, noch ist es aus den dem Verfassungsgerichtshof vorliegenden Akten ersichtlich.

 

Wenn nun die belangte Behörde das Gewicht der Integration auf Grund des festgestellten stetigen unsicheren Aufenthaltes der Beschwerdeführer während der Dauer ihrer Asylverfahren derart gemindert erachtet, dass sie eine Verletzung des Art8 EMRK durch die Ausweisungen ausschließt, übersieht sie, dass es die Verantwortung des Staates ist, die Voraussetzung zu schaffen, um Verfahren so effizient führen zu können, dass nicht bis zur ersten rechtskräftigen Entscheidung - ohne Vorliegen außergewöhnlich komplexer Rechtsfragen und ohne, dass den nunmehrigen Beschwerdeführern die lange Dauer des Asylverfahrens anzulasten wäre - sieben Jahre verstreichen. […]

 

Die belangte Behörde kommt daher in ihrer Entscheidung zum verfassungsrechtlich nicht vertretbaren Schluss, dass bei Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den privaten Interessen der Beschwerdeführer, das öffentliche Interesse an der Einhaltung der fremdenpolizeilichen Vorschriften gegenüber den persönlichen Interessen der Beschwerdeführer überwiegt."

 

3.4.2.2. Wenn der Bw auch alleine und nicht mit seiner Familie nach Österreich eingereist ist, liegt dennoch ein über weite Strecken gleicher Sachverhalt wie jener, welcher der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zugrunde liegt vor. Die Aufenthaltsdauer ist ähnlich lange, die deutsche Sprache wurde erlernt und Unterstützungserklärungen beigebracht. Insbesondere handelt es sich aber auch hier um einen Fall, in dem das Asylverfahren, ohne Erstreckungsanträge, Folgeanträge usw ca 7 Jahre und 10 Monate gedauert hat (konkret von 11. Februar 2003 bis 9. Dezember 2010). Dass dies auf eine schuldhafte Verzögerung durch den Bw zurückzuführen wäre, wurde von der belangten Behörde weder dargestellt, noch ist es aus den dem Oö. Verwaltungsgerichtshof vorliegenden Akten ersichtlich. Weiters hat auch der Bf im zitierten Verfassungsgerichtshoferkenntnis nicht am Erwerbsleben teilgenommen.

 

Nicht auszuschließen wäre zwar, dass aufgrund der familiären Situation im vom Verfassungsgerichtshof entschiedenen Fall, welche im hier zu entscheidenden Fall nicht gegeben ist, auf verfassungsrechtlicher Ebene dennoch ein von VfSlg 19.203/2010 abweichendes Resultat zu erlangen ist.

 

Das erkennende Mitglied des Oö. Verwaltungssenats geht jedoch vor dem Hintergrund des Erkenntnisses VfSlg 19.203/2010 davon aus, dass die in Punkt 3.4.1.2. aufgezeigte mangelnde berufliche Integrationskomponente durch das überaus lange Asylverfahren in gewisser Weise kompensiert wird.

 

3.5. Es sind somit keine Gründe ersichtlich, die es rechtfertigen würden, von der dargestellten höchstgerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen. Der angefochtene Bescheid war daher ersatzlos zu beheben.

 

3.6. Aufgrund des im vorigen Punkt erlangten Ergebnisses ist gemäß § 61 Abs. 3 FPG auch festzuhalten, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den Bw auf Dauer unzulässig ist.

 

3.7. Nachdem der Bw der deutschen Sprache ausreichend mächtig ist, konnte gemäß § 59 Abs. 1 FPG auf die Übersetzung des Spruchs und der Rechtsmittelbelehrung verzichtet werden.

 

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

Hinweis:

1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einer bevollmächtigten Rechtsanwältin oder einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingebracht werden. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

2. Im Verfahren sind Stempelgebühren in Höhe von 14,30 Euro (Eingabegebühr) angefallen.

 

 

Bernhard Pree

 

 

Beschlagwortung:

überlanges Asylverfahren; Ausweisung; Rückkehrentscheidung; § 52 FPG;

 

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