Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-730081/5/Sr/ER VwSen-730083/5/Sr/ER VwSen-730084/5/Sr/ER

Linz, 20.01.2012

 

 

E R K E N NT N I S

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Christian Stierschneider über die Berufung 1.) des X, geb. X, 2.) der X, geb. X und 3.) des X, geb. X, alle StA von Armenien, vertreten durch deren Mutter, X, geb. X, allesamt vertreten durch X, Rechtsanwältin in X, gegen die Bescheide des Polizeidirektors der Landeshauptstadt Linz vom 6. Juli 2010, AZ.: 1063099/FRB, 1063100/FRB und 1063101/FRB, betreffend Ausweisungen der Berufungswerber nach dem Fremdenpolizeigesetz, zu Recht erkannt:

 

             I.      Den Berufungen wird stattgegeben und die angefochtenen Bescheide werden ersatzlos aufgehoben.

 

          II.      Rückkehrentscheidungen sind auf Dauer unzulässig.

 

 

Rechtsgrundlage:

§ 66 Abs. 4 iVm. § 67a Abs. 1 Z 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG

 

 

Entscheidungsgründe:

 

 

1. Mit den Bescheiden des Polizeidirektors der Landeshauptstadt Linz vom 6. Juli 2010, AZ.: 1063099/FRB, 1063100/FRB und 1063101/FRB, wurden gegen die Berufungswerber (im Folgenden: Bw) auf Basis der §§ 31 Abs. 1 und 1a, 53 Abs. 1 in Verbindung mit § 66 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 – FPG in der zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Fassung, Ausweisungen aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich angeordnet.

 

Neben der Wiedergabe der anzuwendenden Rechtsvorschriften führt die belangte Behörde zum Sachverhalt im Wesentlichen aus, dass die 1. und 2. Bw erstmalig am 29. August 2003 in Begleitung ihrer Mutter illegal nach Österreich eingereist seien und am folgenden Tag, dem 30. August 2003, Asylanträge gestellt hätten, die am 10. März 2010 rechtskräftig negativ entschieden worden seien.

Der 3. Bw sei am X in X geboren worden, für ihn sei am 12. Juli 2007 ein Asylantrag gestellt worden, über welchen ebenfalls am 10. März 2010 negativ entscheiden worden sei.

Den Bw und ihrer Mutter sei am 30. März 2010 die beabsichtigte Ausweisung mitgeteilt worden und sie seien aufgefordert worden, dazu binnen zwei Wochen Stellung zu nehmen und ihre Privat- und Familienverhältnisse darzulegen.

 

Daraufhin hätten die Bw in ihrer Stellungnahme vom 8. April 2010 angegeben, dass die 1. und 2. Bw bereits seit sieben Jahren in Österreich leben würden, der 3. Bw sei hier geboren worden. Die 1. und 2. Bw würden in Österreich die Schule besuchen.

Zudem hätten sie einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG in der damals geltenden Fassung gestellt.

Der Vater der Bw sei berufstätig und käme für den Unterhalt der Familie auf, die Familie lebe an einem gemeinsamen Wohnsitz und die Bw sowie deren Mutter seien beim Vater mitversichert.

Die 1. und 2. Bw würden perfekt deutsch sprechen und hätten viele Freunde und Bekannte in Österreich sowie zahlreiche soziale Bindungen. Sie seien in Österreich perfekt integriert, würden in der Schule gute Erfolge erzielen und kaum mehr die armenische Sprache beherrschen. Der 1. Bw sei überdies Mitglied in einem Fußballverein.

Zu Armenien bestehe keine Bindung mehr, zu den dort verbliebenen Verwandten bestehe nur mehr sporadischer Kontakt. Die Bw hätten sich in Österreich immer korrekt verhalten.

 

In ihrer rechtlichen Beurteilung kommt die belangte Behörde im Wesentlichen zum Ergebnis, dass die Ausweisung einen nicht unerheblichen Eingriff in das Privatleben der Bw bedeute, der allerdings dadurch zu relativieren sei, dass deren Aufenthalt auf Rechtsgrundlage eines offensichtlich unbegründeten Asylantrags beruhe.

 

Die 1. und 2. Bw hätten die erstinstanzlich negativen Asylentscheidungen vom 3. Dezember 2004 als eindeutiges Indiz für ihren unsicheren Aufenthaltstatus erkennen müssen.

 

Die Mutter der Bw sei verheiratet und lebe mit ihrem Gatten in Österreich. Die Bw befänden sich – wie deren Eltern – illegal in Österreich. Von einem Eingriff in das Familienleben könne nicht gesprochen werden, da gegen alle Familienmitglieder eine Ausweisung verfügt werde.

Zudem könnten die Bw nicht darauf vertrauen, das das bestehende Familienleben im Gastland nach Erledigung der Asylanträge fortgesetzt werden könne. Weitere familiäre Bindungen in Österreich hätten die Bw nicht angegeben und seien aus dem Akt nicht ersichtlich.

 

Zum behaupteten korrekten Verhalten in Österreich verweist die belangte Behörde auf eine – mittlerweile gemäß § 3 Abs. 1 Z. 2 Tilgungsgesetz getilgte – rechtskräftige Verurteilung gegen die Mutter der Bw.

 

Die behauptete Integration in Österreich werde außerdem in ihrem Gewicht maßgeblich reduziert, da die integrationsbegründenden Umstände während eines Aufenthalts erworben worden seien, der auf von Anfang an unbegründete Asylanträge gegründet gewesen sei.

 

Die beim Magistrat Linz eingebrachten Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung nach dem NAG würden keinen Rechtsanspruch auf Verbleib in Österreich während des Verfahrens und keine Einschränkung der behördlichen Ermächtigung zur Erlassung einer Ausweisung bewirken.

 

Unter Abwägung der o.g. persönlichen Situation der Bw mit den öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen stellt die belangte Behörde fest, dass die Ausweisungen zur Erreichung der in Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten und fremdenrechtlich zulässig seien.

 

2. Gegen diese Bescheide erhoben die Bw, vertreten durch ihre Mutter, rechtzeitig Berufung mit Schriftsatz vom 23. Juli 2010. Darin werden die Anträge gestellt, die Ausweisungsbescheide zu beheben; in eventu der Berufung Folge zu geben, die Bescheide aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an die Erstbehörde zurück zu verweisen; eine mündliche Berufungsverhandlung anzuberaumen.

 

Die Bw begründen ihre Berufung im Wesentlichen damit, dass die Asylanträge – entgegen der Feststellung der belangten Behörde – nicht als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden seien. Vielmehr hätten die Bw während des Asylverfahrens über vorläufige Aufenthaltsberechtigungen verfügt und wären damit ermutigt worden, sich in Österreich zu integrieren. Der Umstand, dass die Asylverfahren im Falle der 1. und 2. Bw fast sieben Jahre gedauert hätten, sei ein weiterer Hinweis dafür gewesen, dass der bis dahin rechtmäßige Aufenthalt in Hinblick auf Art. 8 EMRK von Dauer sein werde. Aus diesem Grunde habe sich auch der Vater der Bw selbstständig gemacht und damit ein Familienleben ohne Inanspruchnahme von öffentlichen Geldern ermöglicht. Die 1. und 2. Bw würden mit gutem Erfolg die Schule besuchen, was durch beigelegte Zeugnisse bewiesen wird.

Die belangte Behörde hätte berücksichtigen müssen, dass die Bw in der Zeit des rechtmäßigen Aufenthalts ihre Integration nachhaltig verfestigt hätten.

 

Weiters halten sie im Wesentlichen fest, dass die Verurteilung der Mutter den Bw nicht zum Nachteil gereichen dürfe.

 

Die belangte Behörde hätte beachten müssen, dass im Fall der Bw ein besonderes Interesse am Verbleib in Österreich bestehe, sodass es im Ergebnis nachvollziehbar sein hätte müssen, dass die Bw versucht haben, vollendete Tatsachen herzustellen. Die Bw seien durch die Berufstätigkeit ihres Vaters selbsterhaltungsfähig, würden über eine hohes Maß an Integration und eine lange Aufenthaltsdauer verfügen, sodass es nachvollziehbar sein müsse, dass sie nach Abschluss des Asylverfahrens die Möglichkeit in Anspruch nahmen, einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung zu stellen. Unter diesen Umständen könne den Bw nicht vorgeworfen werden, dass sie nach Abschluss des Asylverfahrens das Land nicht verlassen haben – insbesondere auch, da im Asylverfahren keine Ausweisungen ausgesprochen worden seien.

 

Die Ausweisungen seien für dauerhaft unzulässig zu erklären, da sie die Bw in ihrem verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht gemäß Art. 8 EMRK verletzen würden.

 

Zum Beweis ihrer Integration legen die 1. und 2. Bw ihrer Berufung die Jahreszeugnisse des Schuljahrs 2009/2010 bei. 

 

Mit Schriftsatz vom 20. Jänner 2011 geben die Bw bekannt, dass sie X, Rechtsanwalt in X, anwaltlich vertreten sind, legen mehrere Unterstützungserklärungen und Nachweise über das Jahres- bzw. Monatseinkommen des Vaters der Bw vor.

 

Ergänzend zu ihren Berufungen zitieren die Bw die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, B 950-954/10-8 vom 7. Oktober 2010 betreffend die Bedeutung der Aufenthaltsdauer und des Umstands, dass Minderjährige Fremde den Großteil ihres Lebens in Österreich aufgehalten haben, in Bezug auf die Reduktion der Integration, wenn integrationsbegründende Umstände während eines unsicheren Aufenthalts erworben wurden.

Mit Schriftsatz vom 26. Juli 2011 geben die Bw bekannt, dass sie nunmehr  durch X, Rechtsanwältin in X, anwaltlich vertreten sind.

 

Mit Schriftsatz vom 17. August 2011 legen die Bw das Jahres- und Abschlusszeugnis für das Schuljahr 2010/2011 des 1. Bw, das Jahreszeugnis für das Schuljahr 2010/2011 der 2. Bw, eine Bestätigung über den Kindergartenbesuch des 3. Bw sowie mehrere Dokumente und Unterstützungsschreiben betreffend ihre Eltern vor.

 

Mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2011 legen die Bw weitere Dokumente betreffend ihre Eltern, sowie eine aktuelle Bestätigung über den Besuch der Polytechnischen Schule des 1. Bw, eine Schulbesuchsbestätigung der 2. Bw und eine Bestätigung über den Kindergartenbesuch des 3. Bw vor.

 

3. Die belangte Behörde legte zunächst den in Rede stehenden Verwaltungsakt der Sicherheitsdirektion Oberösterreich vor.

 

Mit 1. Juli 2011 trat das Fremdenrechtsänderungsgesetz, BGBl. I Nr. 38/2011 in wesentlichen Teilen in Kraft. Aus § 9 Abs. 1a FPG in der nunmehr geltenden Fassung ergibt sich, dass der Unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über die Berufung zuständig ist, weshalb der in Rede stehende Verwaltungsakt von der Sicherheitsdirektion Oberösterreich – nach Inkrafttreten der Novelle am 1. Juli 2011 – dem Unabhängigen Verwaltungssenat am 4. Juli 2011 übermittelt wurde.

 

3.1. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde sowie der ergänzenden Schreiben vom 20. Jänner 2011, 26. Juli 2011, 17. August 2011 und vom 14. Dezember 2011.

 

3.2. Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit Berufung angefochtene Bescheid aufzuheben ist (§ 67d Abs. 2 Z. 1 AVG)

 

Der Oö. Verwaltungssenat geht bei seiner Entscheidung von dem unter den Punkten 1. und 2. dieses Erkenntnisses dargestellten unbestrittenen Sachverhalt aus und stellt fest, dass sämtliche Bw nach wie vor regelmäßig und erfolgreich Ausbildungseinrichtungen in Österreich besuchen.

 

3.3. Der Unabhängige Verwaltungssenat ist zur Entscheidung durch eines seiner Mitglieder berufen (vgl. § 67a Abs. 1 Z 1 AVG).

 

4. In der Sache hat der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich erwogen:

 

4.1.1. Gemäß § 125 Abs. 14 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 erlassene Ausweisungen gemäß § 53 als Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter, mit der Maßgabe, dass ein Einreiseverbot gemäß § 53 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 damit nicht verbunden ist.

 

4.1.2. Im vorliegenden Fall wurden die Ausweisungen auf Basis des § 53 FPG (in der Fassung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011) erlassen, weshalb diese Ausweisungen als Rückkehrentscheidungen im Sinne des § 52 FPG in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 anzusehen und zu beurteilen sind.

 

4.2.1. Gemäß § 52 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, ist gegen einen Drittstaatsangehörigen, sofern nicht anderes bestimmt ist, mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die Rückkehrentscheidung wird mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Berufung gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 66 Abs. 4 AVG auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

 

4.2.2. Im vorliegenden Fall ist auch von den Bw selbst unbestritten, dass sie über keinerlei Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügen und somit grundsätzlich unrechtmäßig aufhältig sind.

 

Allerdings ist bei der Beurteilung der Rückkehrentscheidung sowohl auf Art. 8 EMRK als auch auf § 61 FPG Bedacht zu nehmen.

 

4.3. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist allerdings ein Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts gemäß Abs. 1 (nur) statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Nach § 61 Abs. 1 FPG ist, sofern durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 2 FPG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

1.         die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der       bisherige         Aufenthalt des Fremden rechtmäßig war;

2.         das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3.         die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4.         der Grad der Integration;

5.         die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6.         die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7.         Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des     Asyl-   Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8.         die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem            Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren   Aufenthaltstatus bewusst waren;

9.         die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden       zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 3 FPG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein aufgrund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder 51ff. NAG) verfügen, unzulässig wäre.

 

Gemäß § 125 Abs. 20 FPG, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes, BGBl. I Nr. 38/2011 vorgenommene Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 66 als Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 61 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter.

 

4.4. Im Sinne der zitierten Normen ist eine Interessenabwägung – basierend auf einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung – vorzunehmen.

 

Gestützt auf die ständige Rechtsprechung der Höchstgerichte ist es grundsätzlich zulässig und erforderlich, Maßnahmen zu ergreifen, um den unrechtmäßigen Aufenthalt einer Person zu beenden, da ein solcher rechtswidriger Status fraglos dazu geeignet ist, die öffentliche Ordnung eines Staates massiv zu beeinträchtigen. Daraus folgt, dass das diesbezügliche öffentliche Interesse hoch anzusetzen ist und eine Rückkehrentscheidung grundsätzlich ein nicht inadäquates Mittel darstellt, um einen rechtskonformen Zustand wiederherzustellen. Dies gilt jedoch nur insofern, als die privaten bzw. familiären Interessen im jeweils konkreten Einzelfall nicht als höherrangig anzusehen sind.

 

4.4.1. Der belangten Behörde folgend ist aufgrund der beabsichtigten Ausweisung aller Familienmitglieder im Wesentlichen eine Interessenabwägung gemäß § 61 Abs. 2 FPG hinsichtlich des Privatlebens der Bw vorzunehmen, wobei insbesondere auf ihre Integration, das Asylverfahren und die lange Aufenthaltsdauer Bedacht zu nehmen ist.

In Anbetracht des hinsichtlich der 1. und 2. Bw rund 8 1/2 Jahre währenden bzw. hinsichtlich des 3. Bw ausschließlichen Aufenthaltes im Bundesgebiet ist den Bw eine der Dauer ihres Aufenthaltes entsprechende Integration zuzugestehen.

Dieser Aufenthalt war hinsichtlich der 1. und 2. Bw nachweislich von 30. August 2003 bis zur Beendigung ihres Asylverfahrens am 10. März 2010, also gut sechseinhalb Jahre, rechtmäßig. Hinsichtlich des 3. Bw, der am 1. Juni 2007 in Linz geboren wurde, war der Aufenthalt gut zweieinhalb Jahre rechtmäßig.

 

Das Gewicht der aus der Aufenthaltsdauer ableitbaren Integration wird jedoch angesichts der ständigen Judikatur des VwGH dadurch gemindert, als der Aufenthalt der Bw während des Asylverfahrens nur aufgrund eines Antrages, welcher sich letztendlich als unberechtigt erwiesen hat, temporär berechtigt war. Den Bw – bzw. deren Vertretungsberechtigten – musste bewusst sein, dass sie ein Privatleben während eines Zeitraumes, in dem sie einen "unsicheren" Aufenthaltsstatus hatten, geschaffen haben, (vgl. etwa Erkenntnis vom 08.11.2006, Zahl 2006/18/0344 sowie Zahl 2006/18/0226 ua.). Sie durften nicht von vornherein damit rechnen, nach einem allfälligen negativen Ausgang des Asylverfahrens weiterhin in Österreich bleiben zu dürfen.

 

In Hinblick auf das Alter der Bw bei deren Einreise nach Österreich bzw. die Tatsache, dass der 3. Bw in Österreich geboren wurde und die 1. und 2. Bw den größten Teil ihres bisherigen Lebens in Österreich verbracht haben und hier ihre Ausbildung absolvieren, ist auf die jüngste Rechtsrechung des Verwaltungsgerichtshofs abzustellen.

Wie folgt wiedergegeben, hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 15. Dezember 2011, GZ 2010/18/0248 dem Umstand, dass die minderjährigen Beschwerdeführer den Großteil ihres Lebens in Österreich verbracht und beinahe auch die gesamte Schullaufbahn in Österreich absolviert haben, ein nicht unbeachtliches Gewicht beigemessen:

 

"Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben eines Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG [in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011]  nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist eine gewichtende Gegenüberstellung der öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich vorzunehmen. Dieses Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung der besagten persönlichen Interessen ist aber auch auf die Auswirkungen, die eine Ausweisung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen.

 

Im Hinblick auf § 66 FPG [in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011]  bzw. das von der belangten Behörde gemäß § 53 Abs. 1 FPG [in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011]  auszuübende Ermessen verweist die Beschwerde u. a. darauf, dass die Dritt- und Viertbeschwerdeführer "mehr oder weniger" in Österreich aufgewachsen seien, hier quasi ihre Kindheit verbracht hätten und zur Schule gingen. Ihre eigene Muttersprache hätten sie mittlerweile verlernt. Die gesamte Familie habe sich mehr als siebeneinhalb Jahre legal im Bundesgebiet aufgehalten, der unrechtmäßige Aufenthalt beschränke sich auf wenige Monate. Da sich die Familie vor der Einreise nach Österreich viele Jahre in Deutschland aufgehalten habe, seien sie von ihrem Heimatland bereits entfremdet.

 

Dieses Vorbringen ist berechtigt. Die belangte Behörde hat sich mit der besonderen Situation der Dritt- und Viertbeschwerdeführer in keiner Weise auseinandergesetzt. Diese wurden unbestritten in Deutschland geboren und kamen im Alter von fünf bzw. acht Jahren nach Österreich, wo sie nunmehr erfolgreich die Schule besuchen. Ihr Aufenthalt war zwischen April 2002 und November 2009 - und damit fast zur Gänze - auf Grund asylrechtlicher Bestimmungen rechtmäßig.  ...

 

Mit einer dem Beschwerdefall vergleichbaren Konstellation hat sich der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis vom 7. Oktober 2010, B 950 bis 954/10-8, auseinandergesetzt. Auch in diesem Fall sollte die gesamte Familie, die im März 2002 nach Österreich kam und deren Asylanträge erst im Februar 2009 rechtskräftig abgeschlossen wurden, gemäß § 53 Abs. 1 FPG [in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011] ausgewiesen werden. Der Verfassungsgerichtshof erkannte darin eine Verletzung des Art. 8 EMRK, u.a. weil erst nach sieben Jahren eine rechtskräftige Entscheidung über die Asylanträge der beschwerdeführenden Parteien ergangen sei (wobei keine Folgeanträge gestellt wurden) und die Behörde dem Umstand, dass die minderjährigen Beschwerdeführer den Großteil ihres Lebens in Österreich verbracht und beinahe auch die gesamte Schullaufbahn in Österreich absolviert hätten, zu wenig Gewicht beigemessen habe. In dem Erkenntnis vom 10. März 2011, B 1565/10 u.a., betont der Verfassungsgerichtshofes nochmals, dass sich die belangte Behörde in ihren Abwägungsgründen mit dem Umstand, dass ein Minderjähriger im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern nach Österreich gekommen ist, den Großteil seines Lebens in Österreich verbracht und beinahe auch die gesamte Schullaufbahn hier absolviert hat, eingehend auseinandersetzen muss.

 

Auch im vorliegenden Fall hat das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Asyl(Erstreckungs)anträge der beschwerdeführenden Parteien etwa siebeneinhalb Jahre gedauert; dass diese Folgeanträge gestellt hätten, wurde nicht festgestellt und ist auch den vorgelegten Verwaltungsakten nicht zu entnehmen. Die besonderen Umstände betreffend die Dritt- und Viertbeschwerdeführer hat die belangte Behörde in Verkennung der Rechtslage gänzlich außer Acht gelassen, weshalb der angefochtene Bescheid schon aus diesem Grund keinen Bestand haben konnte."

 

4.4.2. Hier ist nun zu prüfen, ob wegen eines besonders stark ausgeprägten persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich akzeptiert werden muss, dass die Bw mit ihrem Verhalten im Ergebnis versuchen, vollendete Tatsachen ("fait accompli") zu schaffen (Hinweis E 24. Oktober 2007, 2007/21/0361), vgl. 2007/21/0074 17.07.2008.

 

Mit 8 1/2 Jahren Dauer können die 1. und 2. Bw auf einen langen Aufenthalt in Österreich verweisen, wobei der größte Teil davon aufgrund des rund sechseinhalb Jahre andauernden Asylverfahrens rechtmäßig war.

Der 1. Bw ist im Alter von acht Jahren, die 2. Bw im Alter von sechs Jahren in Begleitung ihrer Mutter nach Österreich eingereist. Der 3. Bw wurde in Österreich geboren. Zum Entscheidungszeitpunkt haben alle Bw mehr als die Hälfte ihres bisherigen Lebens in Österreich verbracht, wobei der überwiegende Teil ihres Aufenthalts aufgrund asylrechtlicher Bestimmungen rechtmäßig war. Die 1. und 2. Bw haben einen wesentlichen Teil, der 3. Bw sein gesamtes bisheriges Leben in Österreich verbracht. Sämtliche Bw befinden sich in Österreich in Bildungseinrichtungen, wobei die 1. und 2. Bw nachweislich erfolgreich die Schule besuchen.

 

Die belangte Behörde hat diese besonderen Umstände außer Acht gelassen und den bekämpften Bescheid im Wesentlichen darauf gestützt, dass die Bw ihre integrationsbegründenden Umstände während eines Aufenthalts erworben hätten, der auf einen von Anfang an nicht berechtigten Asylantrag gegründet gewesen sei und sie sich ihres unsicheren Aufenthalts bewusst sein hätten müssen.

 

Wie folgt wiedergegeben, hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 22. Dezember 2009, GZ 2009/21/0348, einer sozialen Integration, obwohl sie in einem Zeitraum entstanden ist, während dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war, ein nicht unbeachtliches Gewicht beigemessen:

 

Aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung bei der Interessensabwägung ist darauf Bedacht zu nehmen, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war. Freilich hat die genannte Bestimmung schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte.

 

Gemäß der oben angeführten Judikatur des VwGH und VfGH ist in diesem Fall hinsichtlich der Frage eines unsicheren Aufenthalts nach § 61 Abs. 2 Z. 8 FPG bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände – dabei insbesondere des Umstands, das die Bw einen wesentlichen Teil bzw. ihr gesamtes bisheriges Leben in Österreich verbracht haben und hier Bildungseinrichtungen besuchen – festzustellen, dass die für die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sprechenden privaten Elemente die des öffentlichen Interesses gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK überwiegen. Im Sinne des letzten Absatzes des oben wiedergegebenen Zitats des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofs vom 15. Dezember 2011, GZ 2010/18/0248, hat die belangte Behörde die besonderen Umstände betreffend die Bw in Verkennung der Rechtslage gänzlich außer Acht gelassen, weshalb der angefochtene Bescheid schon aus diesem Grund keinen Bestand haben konnte.

 

Nicht zuletzt wird auch davon auszugehen sein, dass gemäß § 61 Abs. 2 Z. 9 FPG von einer eher in die Sphäre der Behörden fallenden langen Verfahrensdauer gesprochen werden muss, zumal die Asylverfahren der 1. und 2. Bw bis zur rechtskräftigen letztinstanzlichen Entscheidung sechseinhalb Jahre gedauert haben, wobei keine Folgeanträge gestellt wurden.   

 

Die dargelegten Umstände verleihen dem persönlichen Interesse der Bw an einem Verbleib in Österreich ein solches Gewicht, dass Rückkehrentscheidungen unverhältnismäßig sind.

 

4.5. Im Ergebnis sind Rückkehrentscheidungen im Hinblick auf das Privatleben der Bw auf Dauer unzulässig.

 

4.6. Es war daher der Berufung stattzugeben, die angefochtenen Bescheide waren aufzuheben und spruchgemäß zu entscheiden.

 

5. Da die Bw ausreichend der deutschen Sprache mächtig sind, konnte gemäß      § 59 Abs. 1 FPG von der Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung Abstand genommen werden.

 

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

 

Hinweis:

1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einer bevollmächtigten Rechtsanwältin oder einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingebracht werden. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

2. Im Verfahren sind Stempelgebühren in Höhe von 72,50 Euro (3 x Eingabegebühr + Beilagen) angefallen.

 

 

 

 

Mag. Stierschneider

 

 

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