Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
FAQs| Sitemap| Weblinks

VwSen-730200/14/SR/Wu

Linz, 22.03.2012

E R K E N NT N I S

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Christian Stierschneider über die Berufung des X, geboren am X, türkischer Staatsangehöriger, vertreten durch X, Rechtsanwalt in X, gegen den Bescheid des Polizeidirektors der Landeshauptstadt Linz vom 20. April 2010, AZ.: 1055283/FRB, betreffend eine Ausweisung des Berufungswerbers nach dem Fremdenpolizeigesetz, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung am 16. März 2012, zu Recht erkannt:

 

Der Berufung wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos aufgehoben.

 

Rechtsgrundlage:

§ 66 Abs. 4 iVm. § 67a Abs. 1 Z 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG

 

 

Entscheidungsgründe:

 

1. Mit Bescheid des Polizeidirektors der Landeshauptstadt Linz vom 20. April 2010, AZ.: 1055283/FRB, wurde gegen den Berufungswerber (im Folgenden: Bw) auf Basis der §§ 31 Abs. 1 und 1a, 53 Abs. 1 in Verbindung mit § 66 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 – FPG in der zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Fassung, die Ausweisung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich angeordnet.

 

Nach Darstellung des relevanten Sachverhaltes und der Wiedergabe der anzuwendenden Rechtsvorschriften setzte sich die belangte Behörde umfassend mit den strafrechtlichen Verurteilungen des Bw und den Auswirkungen seines Tatverhaltens auf die unbestritten vorliegende Integration auseinander. Ausschlaggebend für die Ausweisung waren der langjährige unsichere Aufenthalt und der unrechtmäßige Aufenthalt nach Abschluss des Asylverfahrens. Da die belangte Behörde daraus eine schwerwiegende Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ableitete, ging die Abwägung im Hinblick auf Art. 8 Abs. 2 EMRK zu Lasten des Bw aus.

2. Gegen diesen Bescheid erhob der rechtsfreundlich vertretene Bw rechtzeitig Berufung mit Schriftsatz vom 5. Mai 2010.

 

Nach der Auflistung zahlreicher vorgelegter Urkunden stellt der Rechtsvertreter richtig, dass der Bw sehr wohl bei seiner Gattin wohne und auf den Meldezetteln die Wohnungsangaben unvollständig wiedergegeben worden seien.

 

Der Bw befinde sich seit Februar 2002 in Österreich, habe fast durchgehend gearbeitet, sei mit einer Österreicherin verheiratet und sei der deutschen Sprache mächtig. Aufgrund seiner umfassenden Integration stelle die Ausweisung einen massiven Eingriff in das Privat- und Familienleben des Bw dar.

 

Abschließend wird der Antrag gestellt, den Ausweisungsbescheid zu beheben.

 

3. Die belangte Behörde legte zunächst den in Rede stehenden Verwaltungsakt der Sicherheitsdirektion Oberösterreich vor.

 

Mit 1. Juli 2011 trat das Fremdenrechtsänderungsgesetz, BGBl. I Nr. 38/2011 in wesentlichen Teilen in Kraft. Aus § 9 Abs. 1a FPG in der nunmehr geltenden Fassung ergibt sich, dass der Unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über die Berufung zuständig ist, weshalb der in Rede stehende Verwaltungsakt von der Sicherheitsdirektion Oberösterreich – nach Inkrafttreten der Novelle am 1. Juli 2011 – dem Unabhängigen Verwaltungssenat am 4. Juli 2011 übermittelt wurde.

 

3.1. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat am 16. März 2012 eine öffentlich mündliche Verhandlung durchgeführt und dazu die Parteien des Verfahren samt beantragter Zeugen geladen.

 

An dieser Verhandlung haben der Berufungswerber, sein Rechtsvertreter, ein Vertreter der belangten Behörde als Parteien und die Gattin des Bw als Zeugin teilgenommen.

 

3.2. Aufgrund der mündlichen Verhandlung steht folgender relevanter Sachverhalt fest:

 

Der Berufungswerber ist am 14. Februar 2002 illegal in das Bundesgebiet eingereist und hat am 18. Februar 2002 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Das Asylverfahren wurde am 14. Jänner 2010 rechtskräftig negativ abgeschlossen.

 

Das der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegende Ausweisungsverfahren leitete die belangte Behörde am 22. Februar 2010 ein. Mit Bescheid vom 20. April 2010, AZ 1055283/FRB, zugestellt am 23. April 2010, wies die belangte Behörde den Bw aus dem Bundesgebiet aus.

Zum Zeitpunkt der Einreise war der Bw unverheiratet. Anfang 2004 lernte er seine Exgattin X, eine seit 2003 in Österreich lebende türkische Staatsangehörige, in Wien kennen, die er in der Folge Ende 2004 ehelichte. Die Scheidung fand 2006 statt.

 

Am X heiratete der Bw seine nunmehrige Gattin, die österreichische Staatsangehörige X, geborene X. Bei der Vorsprache am 22. März 2011 in der Sicherheitsdirektion Oberösterreich gab der Bw in Anwesenheit seiner Gattin an, dass er diese vor ca. 3 bis 4 Jahren kennengelernt habe und seit Anfang 2010 mit ihr und dem 15-jährigen Sohn der Gattin aus einer früheren Beziehung im gemeinsamen Haushalt lebe.

 

In der Zeit vom 20. Mai 2003 bis zum 19. Jänner 2010 wohnte der Bw in X und seit dem 19. Jänner 2010 ist er bei seiner Gattin in X gemeldet.

 

Am 11. Februar 2010 brachte der Bw einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" ein und stützte diesen auf die Familiengemeinschaft mit seiner Gattin X. Mit Bescheid vom 15. Juli 2010, Zl. 304-3-AEG/41520 wies der Magistrat der Landeshauptstadt Linz den Antrag gemäß § 21 Abs. 1 und 3 NAG ab. Die dagegen fristgerecht eingebrachte Berufung wies die Bundesministerin für Inneres mit Bescheid vom 14. Februar 2011, GZ 157.113/2-III/4/10, ab. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 14. Dezember 2011, B 431/11-4, die Behandlung der Beschwerde abgewiesen, die Abtretung an den VwGH wurde beantragt.

 

Bis zum rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens ist der Bw überwiegend einer Beschäftigung nachgegangen. Derzeit verfügt der Bw ausschließlich über eine Beschäftigungszusage.

 

Aufgrund des langjährigen Aufenthaltes in Österreich ist der Bw der deutschen Sprache mächtig. Seit dem rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens verfügt der Bw über kein Aufenthaltsrecht in Österreich.

 

Im Zuge des anhängigen Berufungsverfahrens legte der Bw ca. 20 Unterstützungserklärungen vor. Diese wurden von seiner Gattin, Arbeitskollegen des Bw und der Gattin, Trauzeugin, Arbeitgeber und Bekannten unterfertigt. Die Unterstützungserklärungen sind breit gestreut und betreffen nicht nur das unmittelbare Umfeld des Bw.

 

In Österreich leben der Bruder, der österreichischer Staatsbürger ist, als auch Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen.

 

Bis 2006 verübte der Bw keine Straftat und wurde auch nicht gerichtlich belangt. Seit Ende 2006 wurde der Bw mehrmals einschlägig rechtskräftig verurteilt. Folgende Vormerkungen scheinen auf:

 

·                 Landesgericht Linz vom 10. Oktober 2006, Zl. 27 Hv 152/2006i, rechtskräftig seit dem 10. Oktober 2005, wegen der §§ 107 Abs. 1 und 2 und 83 Abs. 1 StGB zu 2 Monaten bedingt auf 3 Jahre;

·                 Bezirksgericht Rohrbach vom 20. November 2007, Zl. U 59/2007i, rechtskräftig seit 24. November 2007, wegen § 83 Abs. 1 StGB zu 80 Tagessätzen zu je 7 Euro, bedingt auf 3 Jahre;

·                 Landesgericht Linz vom 4. Mai 2010, Zl. 23 Hv 47/10Z, rechtskräftig seit dem 5. Mai 2010, wegen der §§ 83 Abs. 1 und 125 StGB zu einer unbedingten Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 11 Euro;

·                 Bezirksgericht Linz vom 25. Mai 2011, Zl. 17 U 42/11h, wegen § 83 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Geldstrafe von 140 Tagessätzen zu je 4 Euro.

 

Die Handgreiflichkeiten ziehen sich seit 2006 wie ein roter Faden durch, dabei handelt es sich immer um Kopfverletzungen.

 

Die Verurteilungen in den Jahren 2006 und 2011 erfolgten aufgrund von Tätlichkeiten des Bw gegen seine jeweilige Gattin.

 

2006 wurde der Bw für schuldig befunden, seine Gattin X an den Haaren gezogen und ihr Faustschläge ins Gesicht und gegen den übrigen Körper versetzt und sie vorsätzlich in Form von Prellungen am Körper verletzt zu haben. Während dieser Tathandlungen bedrohte der Bw die nunmehrige Exgattin gefährlich, indem er sie wiederholt mit dem Umbringen bedrohte und zur Untermauerung seiner Äußerungen in der gemeinsamen Wohnung nach einem Küchenmesser suchte.

Nachdem die Exgattin aufgrund einer Bedrohung im Jahr 2005 die Aggressivität des Bw kannte, hatte sie vorsorglich die großen Messer in einem Küchenschrank versteckt. Gegenüber den einschreitenden Beamten gab die Exgattin am 3. September 2006 an, dass sie regelmäßig von dem Bw geschlagen worden sei und bereits drei- oder viermal Anzeige erstattet habe. Der Bw sage immer, dass eine Scheidung nicht in Frage komme, sie wolle diese und werde aus Angst vor dem Bw zur Familie nach X ziehen.

 

Nach dieser Tat ist die erste Gattin des Bw nach Wien verzogen. Die Auseinandersetzungen gründeten sich auch darin, dass der Bw Kurde und die erste Gattin Türkin war.

Die Verurteilung 2011 erfolgte, weil der Bw seine Gattin X am 8. Februar 2011 durch Faustschläge gegen den Kopf, einen Schlag mit dem Handrücken gegen den Mund und Reißen an den Haaren, sowie in Form einer Hautabschürfung im Bereich der Lippe linksseitig, einer Kopfprellung und einer Zerrung der Nackenmuskulatur vorsätzlich am Körper verletzt hat. Erschwerend wurden drei einschlägige Vorstrafen und mildernd das Geständnis und ein Therapiebesuch gewertet.

 

2010 wurde der Bw verurteilt, weil er im Zuge eines Streites durch Schläge mit der Faust in das Gesicht einen Dritten in Form einer Prellung der rechten Jochbeingegend, Hautabschürfung über den rechten Jochbein, Hautabschürfungen an der Nase sowie Hautabschürfung am rechten Handrücken vorsätzlich am Körper verletzt hat. Weiters wurde der Bw verurteilt, weil er einen im Lokal befindlichen Spielautomaten mit einem Faustschlag beschädigt hat.

 

Aufgrund der Verurteilungen absolvierte der Bw teilweise mit seiner Gattin am 16. und 30. März 2011, am 7. April 2011, am 2. und 12. Mai 2011 eine Gesprächstherapie.

 

3.3. Der Bw und seine Gattin haben in der mündlichen Verhandlung einen äußerst glaubwürdigen Eindruck hinterlassen.

 

Übereinstimmend schilderten sowohl der Bw als auch seine Gattin ein glückliches Familienleben, in das auch das Kind der Gattin aus erster Ehe umfassend integriert ist. Der Bw verfügt mit seiner Gattin über einen weit gestreuten Freundes und Kollegenkreis. Mangels einer Arbeitsberechtigung übernimmt der Bw einen Großteil der häuslichen Aufgaben.

 

Die Gattin des Bw hat anschaulich den Vorfall in ihrer Wohnung geschildert und ausgeführt, dass das wahre Tatgeschehen in der Urteilsbegründung nicht zum Ausdruck komme. Als sie am besagten Tag nach Hause gekommen ist, habe sie den Bw stark alkoholisiert in der Wohnung angetroffen. Da sie einen anstrengenden Tag hinter sich gehabt habe, habe sie mit dem Bw zu streiten begonnen. Nachdem die Auseinandersetzung heftiger geworden war, habe sie der Bw an den Haaren gefasst und gerissen. In ihrem erregten Zustand habe sie eine Fernbedienung ergriffen, damit gegen den Kopf des Bw geschlagen und diesen an der Schläfe verletzt. Daraufhin habe der Bw mit den Händen "herumgefuchtelt" und sie am Kopf getroffen. Mit den Fäusten sei sie nicht geschlagen worden. Jedenfalls habe sie danach wutentbrannt die Wohnung verlassen. Der Bw habe die Polizei verständigt. Diese habe beide zur Polizeiinspektion gebracht und niederschriftlich befragt. Danach sei gegen den Bw ein Betretungsverbot von 10 Tagen verhängt worden. Sie habe sich bereits damals schuldig gefühlt und am folgenden Tag mit dem Bw Kontakt aufgenommen. Aus dem Krankenhausbericht sei ersichtlich, dass sie sich nur eine Rötung im Lippenbereich zugezogen habe. Gleich nach Ablauf des Betretungsverbotes hätten sie das gemeinsame Familienleben fortgesetzt. Seit diesem Zeitpunkt habe keine weitere tätliche Auseinandersetzung mehr stattgefunden. Der Bw trinke seit diesem Tag keinen Alkohol mehr und sei äußerst fürsorglich. Die vorgesehene Gesprächstherapie habe sich auch sehr positiv ausgewirkt.

 

4. In der Sache hat der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich erwogen:

 

4.1.1. Gemäß § 125 Abs. 14 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 erlassene Ausweisungen gemäß § 53 als Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter, mit der Maßgabe, dass ein Einreiseverbot gemäß § 53 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 damit nicht verbunden ist.

 

4.1.2. Im vorliegenden Fall wurde die Ausweisung auf Basis des § 53 FPG (in der Fassung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011) erlassen, weshalb diese Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne des § 52 FPG in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 anzusehen und zu beurteilen wäre.

 

4.2.1. Unbestritten steht fest, dass der Bw mit einer österreichischen Staatangehörigen verheiratet ist und sich mehr als zehn Jahre durchgehend im Bundesgebiet aufhält.

 

Der Bw ist somit als Familienangehöriger (§ 2 Abs. 4 Z. 12 FPG) zu betrachten und gemäß § 65b FPG gilt für diesen § 66 FPG.

 

Nach § 66 Abs. 3 FPG ist die Ausweisung eines Familienangehörigen eines Österreichers, der seit zehn Jahren seinen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden muss, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.

 

4.2.2. Im vorliegenden Fall wurde der Bw im Zeitraum von 2006 bis 2011 mehrmals rechtskräftig verurteilt.

 

Maßgeblich ist aber nicht primär, dass eine strafgerichtliche Verurteilung bzw. hier mehrere strafgerichtliche Verurteilungen ausgesprochen wurden, sondern dass im Sinne einer Prognoseentscheidung das gegenwärtige und zukünftige Verhalten einer Person im Lichte ihrer strafgerichtlichen Verurteilung(en) rechtlich zu würdigen ist. Es ist also im konkreten Einzelfall zu analysieren, ob davon ausgegangen werden kann, dass sich der Bw hinkünftig rechtskonform verhalten wird. Daher ist – aus Gründen der Verhältnismäßigkeit – vor Erlassung einer Ausweisung zu prüfen, ob das Verhalten des Bw aus derzeitiger Sicht geeignet erscheint, in Hinkunft die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich nachhaltig und maßgeblich zu gefährden.

 

Hinsichtlich der nach dem FPG anzustellenden Prognosebeurteilungen hat der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Judikatur ausgesprochen, dass es letztlich immer auf das in Betracht zu ziehende Verhalten des Fremden ankommt. Es ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Das FPG legt, bezogen auf unterschiedliche Personenkreise oder nach bestimmter Aufenthaltsdauer, ein unterschiedliches Maß für die zu prognostizierende Gefährlichkeit des Fremden fest. So setzt § 53 Abs 2 FPG ("Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" oder "Zuwiderlaufen anderen im Art. 8 Abs 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen") in Relation zu § 64 Abs 4 FPG ("schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit") ein geringeres Maß der Gefährlichkeitsprognose voraus. Hingegen verlangt § 67 Abs 1 FPG ("tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt") im Verhältnis zu § 64 Abs 4 FPG ein höheres Maß der Gefährdungsprognose, die sich zudem nach dem fünften Satz des § 67 Abs 1 FPG ("nachhaltige und maßgelbliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit") noch weiter steigert (vgl. VwGH vom 20. November 2008, 2008/21/0603; E vom 3. April 2009, 2008/22/0913). Ein geringeres Maß der Gefährdungsprognose hat der Gesetzgeber im § 66 Abs. 3 vorletzter Satz des FPG (maßgebliche und nachhaltige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit) vorgesehen.

 

Der EuGH hat im Urteil vom 27. Oktober 1977, Rs 30/77, ausgeführt, dass jede Gesetzesverletzung eine Störung der öffentlichen Ordnung darstellt. Neben dieser Störung der öffentlichen Ordnung muss nach Ansicht des Gerichtshofes jedenfalls eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Frühere strafrechtliche Verurteilungen dürfen nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände  ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Wenn auch in der Regel die Feststellung einer derartigen Gefährdung eine Neigung des Betroffenen nahelegt, dieses Verhalten in Zukunft beizubehalten, so ist es doch auch möglich, dass schon allein das vergangene Verhalten den Tatbestand einer solchen Gefährdung der öffentlichen Ordnung erfüllt. Es obliegt den nationalen Behörden und gegebenenfalls den nationalen Gerichten, diese Frage in jedem Einzelfall zu beurteilen, wobei sie die besondere Rechtstellung der dem Gemeinschaftsrecht unterliegenden Personen und die entscheidende Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen haben.

 

Für den Oö. Verwaltungssenat erreichen die Gesetzesverletzungen des Bw nicht das in § 66 Abs. 3 vorletzter Satz FPG geforderte Maß.

Auch wenn die Tätlichkeiten des Bw nach der Aktenlage nach einem gewissen Muster abgelaufen sind zeigen die angewandten Normen und die zuletzt verhängten Geldstrafen auf, dass das Gericht nicht von einem schwerwiegenden Verstoß des Bw ausgegangen ist. Stellt man § 53 FPG ab, der als Orientierungsmaßstab zur Bewertung im Rahmen des § 66 FPG herangezogen werden kann, wird die vorige Annahme bestätigt.

 

Über das bloße Faktum der strafgerichtlichen Verurteilung hinaus bedarf es einer Bewertung. Es ist auf die Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftat und auf das sich hieraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen.

 

Die belangte Behörde konnte zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides nicht auf die beiden letzten Straftaten abstellen, da der Bw diese erst zu einem späteren Zeitpunkt begangen hat.

 

Obwohl die weiteren Straftaten die Ansicht der belangten Behörde zu bestätigen scheinen, zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass die Tatumstände der letzten Straftat und das aktuelle Persönlichkeitsbild diese Annahme widerlegen.

 

Das sich bei der Erlassung des angefochtenen Bescheides abzeichnende Persönlichkeitsbild des Bw – latente Gewaltbereitschaft und jähzorniges Agieren – ist bei der letzten Straftat nicht hervorgetreten. Stellt man nur auf das Urteil ab, käme man zum Schluss, dass sich die Persönlichkeit des Bw nicht geändert hat. Die umfassende Auseinandersetzung mit dem Geschehensablauf, der zur Verurteilung geführt hat, zeichnet aber ein anderes Bild. Der stark alkoholisierte Bw ist erst zu einem Zeitpunkt handgreiflich geworden, nachdem ihm eine blutende Wunde im Gesicht zugefügt worden war. Die Verletzungen beim Opfer, die teilweise aus Abwehrbewegung des Bw resultieren, stellten sich nach Einsichtnahme in den Krankenhausbericht geringfügiger als angenommen dar. Für den Bw spricht das Verhalten, das er während und nach der häuslichen Auseinandersetzung an den Tag gelegt hat. Im Gegensatz zu der sich schuldig fühlenden Gattin hat der Bw die Polizei verständigt und auch das gegen ihn verhängte Betretungsverbot beachtet. Bereits unmittelbar nach der strafbaren Handlung setzte das bis heute durchgängige Wohlverhalten des Bw ein. Seit diesem Zeitpunkt ist er alkoholresistent und ein umsichtiger Ehegatte. Sein Wille sich zu bessern und künftig ein rechtskonformes Leben zu führen ist auch dadurch zum Ausdruck gekommen, dass er noch vor der Verurteilung mit einer Therapie begonnen und diese teilweise gemeinsam mit seiner Gattin absolviert hat. Die Läuterung und die nunmehr gelungene Integration wird von zahlreichen gemeinsamen Freunden und Arbeitskollegen bestätigt. Die familiäre Verbundenheit ist derartig stark, dass die Gattin, die der türkischen Sprache nicht mächtig ist, im Falle einer Ausweisung Österreich mit dem Bw verlassen würde, um die engen Familienbande nicht zu sprengen.

 

Aus dem persönlichen Verhalten des Bw kann derzeit keinesfalls abgeleitet werden, dass sein Verbleib im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich nachhaltig und maßgeblich gefährden würde.

 

Eine Abwägung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK konnte daher unterbleiben.

 

4.3. Der Berufung war stattzugeben und der Bescheid im angefochtenen Umfang aufzuheben.

 

5. Im Hinblick darauf, dass der Bw ausreichend der deutschen Sprache mächtig ist, konnte gemäß § 59 Abs. 1 FPG von der Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung Abstand genommen werden.

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

Hinweis:

1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils einem Rechtsanwalt unterschrieben sein. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

2. Im Verfahren sind Stempelgebühren in Höhe von 55,60 Euro (Eingabe- und Beilagengebühr) angefallen.

 

Mag Stierschneider

 

DruckersymbolSeite drucken
Seitenanfang Symbol Seitenanfang
www.uvs-ooe.gv.at| Impressum