Linz, 14.05.2012
E r k e n n t n i s
Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Wolfgang Weigl über die Berufung des X, geb. X, vertreten durch X, X, X, gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Linz vom 18.12.2009, AZ: 1030346/FRB, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 12.4.2012, zu Recht erkannt:
Der Berufung wird stattgegeben und der bekämpfte Bescheid ersatzlos behoben.
Rechtsgrundlagen:
§ 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG), § 65b, § 67 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF. BGBl. I Nr. 38/2011.
Entscheidungsgründe:
Die Bundespolizeidirektion Linz erließ mit Bescheid vom 18.12.2009, AZ: 1030346/FRB, gegen den Berufungswerber (im Folgenden: Bw) gemäß § 60 Abs. 1 und Abs. 2 Z. 1 und Z. 2 iVm §§ 63 und 66 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ein auf 10 Jahre befristetes Aufenthaltsverbot für das Bundesgebiet der Republik Österreich. Die Behörde argumentierte, der Bw sei im Besitz eines unbefristeten Niederlassungsnachweises. Das Aufenthaltsverbot stützt sich auf die rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilungen durch das LG Linz vom 13.2.2003, das LG Wels vom 19.7.2005, das BG Linz vom 13.3.2007 und das LG Linz vom 9.7.2009.
Dagegen richtet sich die Berufung vom 5.1.2010. Der Bw beantragt darin, die Berufungsbehörde möge den Bescheid der Bundespolizeidirektion Linz vom 18.12.2009 ersatzlos beheben; in eventu die auf 10 Jahre erlassene Befristung des Aufenthaltsverbotes entsprechend herabsetzen.
Nach Inkrafttreten wesentlicher Bestandteile des Fremdenrechtsänderungsgesetzes (FrÄG), BGBl. I Nr. 38/2011, am 1.7.2011, übermittelte die Sicherheitsdirektion OÖ. zuständigkeitshalber den Verfahrensakt dem Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes OÖ.
Der UVS führte am 12.4.2012 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.
Der rechtsanwaltliche Vertreter erstattete eingangs folgendes Vorbringen:
"Es wird darauf hingewiesen, dass der Bw und X seit X verheiratet sind. X ist österreichische Staatsbürgerin. Sie erwartet vom Bw ein Kind. Geburtstermin ist Ende Juli 2012. Auf den Berufungsschriftsatz wird verwiesen. Die dort gestellten Anträge werden vollinhaltlich aufrecht erhalten."
Der rechtsanwaltliche Vertreter erstattete folgendes Schlussvorbringen: "Das Ermittlungsverfahren und insbesondere die Zeugenaussage der Gattin des Bw hat ergeben, dass sich der Bw glaubwürdig von jeglichen strafbaren Verhalten distanziert hat. Das Wohlverhalten seit der Entlassung aus der Haft ist maßgeblich und entscheidend. Es wird durch das durchgehende Beschäftigungsverhältnis dokumentiert. Zusammenfassend hat die Integration des Bw ein vollkommenes Ausmaß erreicht. Er lebt in Österreich mit seiner österreichischen Ehegattin in Familiengemeinschaft. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes ist bei solcher Sachlage aus Gründen des Privat- und Familienlebens bzw. der vorhandenen Integration absolut unzulässig. Die Anträge der Berufung werden ausdrücklich aufrecht erhalten und die Behebung des Aufenthaltsverbotes beantragt."
Mit Eingabe vom 19. April 2012 übermittelte der BW eine schriftliche Aufstellung aller Verwandten, eine Fotokopie des Jahreszeugnisses 1997/1998, die Ablichtung des Mutter Kind Passes seiner Ehegattin und eine Bestätigung der pro mente plus Gmbh über die Teilnahme an den Psychotherapieterminen in der Zeit zwischen 14. Juli 2010 und 28. Juli 2011. In Summe könne man daraus jedenfalls den Schluss ziehen, dass die Therapie insofern Erfolg gehabt hätte, als er derzeit Gewaltkonflikte sehr gut entschärfen könne und immun gegen derartige Konfliktsituationen sei und dass er selbstverständlich keinerlei Kontakte mehr zur Drogenszene habe und auch in dieser Richtung vollständig und zur Gänze ausgeheilt sei.
Der Unabhängige Verwaltungssenat stellt folgenden Sachverhalt fest:
Der Bw wurde am 1.5.1983 geboren und ist türkischer Staatsbürger.
Er reiste am 21.7.1990 in Begleitung seines Vater X nach Österreich ein. Seine Mutter X hielt sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Österreich auf. Bis vor 5 oder 6 Jahren lebte er in einem Haushalt bzw. in Familiengemeinschaft mit seinen beiden Eltern. Danach zog er aus und nahm sich eine eigene Unterkunft. Seit dreieinhalb Jahren lebt er in Familiengemeinschaft mit der nicht freizügigkeitsberechtigten österreichischen Staatsbürgerin X. Die Eheschließung erfolgte am 27.4.2010 vor dem Standesamt des Magistrates der Landeshauptstadt Linz. X erwartet vom Bw ein Kind. Sie ist im 7. Monat schwanger.
Der Vater des Bw X und seine Mutter X sowie seine Onkel, Tanten und Cousinen sind mittlerweile österreichische Staatsbürger. In Österreich leben weiters die Eltern sowie die Geschwister von X. Auch diese sind mittlerweile österreichische Staatsbürger. Sein Bruder X ist selbstständig und führt ein Restaurant in der X in X. Seine Schwester X ist ausgelernte Zahntechnikerin und arbeitet in diesem Beruf. Seine Schwester X ist selbstständig und hat eine Getränkefirma.
X spricht Deutsch und fließend Türkisch. Der Bw spricht Deutsch und ebenso fließend Türkisch.
Zur schulischen Ausbildung des Bw ist festzustellen, dass er in Österreich Volksschule und Hauptschule besuchte. Die Hauptschule brach er in der 3. Klasse ab, um seinem Vater in der Gastronomie zu helfen. Sein Vater ist seit seiner Einreise ständig in der Gastronomie tätig und betrieb damals in der X das "X". Zur Zeit betreibt sein Vater das Lokal "X" in der X in Linz.
Der Bw war bis Anfang 2000 im Familienbetrieb im Rahmen der gegenseitigen familiären Aushilfe tätig.
Aus dem Versicherungsdatenauszug vom 6.2.2012 geht Folgendes hervor:
"X" 15
19.09.2002 30.10.2002 Arbeitslosengeldbezug 05
31.10.2002 06.11.2002 Krankengeldbezug, Sonderfall 16
07.11.2002 10.12.2002 Arbeitslosengeldbezug
28.12.2002 26.01.2003 Arbeitslosengeldbezug 05
27.01.2003 07.02.2003 Arbeiter
X 17
19.02.2006 07.03.2006 Krankengeldbezug, Sonderfall
01.01.2008 31.12.2008 nicht bezahlte Beiträge BSVG, GSVG, FSVG
Der Grund dafür, dass er bei "X" nur mehr geringfügig beschäftigt ist, liegt darin, dass er seit Dezember 2011 auch bei seinen Eltern im Lokal in der X aushilft.
Auf den Vorhalt des Verhandlungsleiters, dass mit 26.9.2003 lt. Versicherungsdatenauszug das Beschäftigungsverhältnis bei der Fa. X endete und erst mit 10.5.2004 ein Beschäftigungsverhältnis mit der Fa. X gegründet wurde und dazwischen keine Versicherungszeiten aufscheinen, gab er an, dass er nicht weiß, ob bzw. was er in dem dazwischen liegenden Zeitraum gearbeitet hat. Vom Verhandlungsleiter befragt, wie er in dieser Zeit seinen Lebensunterhalt bestritt, gab er an, dass er vermutlich von seinen Eltern unterstützt wurde.
Das Landesgericht Linz hat mit Urteil vom 13.2.2003, Zl. 33 Hv 201/02 h, zu Recht erkannt:
Mildernd war die Unbescholtenheit und das Alter unter 21 Jahren. Erschwerend waren keine Umstände.
Das Amtsgericht Passau verhängte mit Urteil vom 7.4.2004, Zl. 9 Ds 208 Js 1728/04, über den Bw eine Freiheitsstrafe von 8 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ferner wurde der Entzug seiner Fahrerlaubnis für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland unter Festsetzung einer Sperre von 1 Jahr angeordnet.
Aus den Gründen dieses Urteils geht hervor:
Das Landesgericht Wels hat mit Urteil vom 19.7.2005, AZ: 12 Hv 102/05d, zu Recht erkannt:
"I.) X ist schuldig,
er hat
1.) in der Zeit seit ca Mitte April 2004 bis 21.12.2004 in Linz, Wels, Gmunden und anderen Orten, teils im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit gesondert verfolgten Mittätern, in wiederholten Angriffen den bestehenden Vorschriften zuwider
a) ein Suchtgift, dessen Menge zumindest das 25-fache der Grenzmenge (§ 28 Abs 6 SMG) ausmachte, nämlich insgesamt 15,910 Stück Ecstasy-Tabletten verschiedener Prägungen (Wirkstoffgehalt ca. 994,37 g MDMA.HCI und zumindest ca 835 g Amphetamin ("Speed", Wirkstoffgehalt ca 83,5 g reines Amphetamin) gewerbsmäßig in Verkehr gesetzt, indem er die Suchtgifte gewinnbringend, und zwar die Ecstasy-Tabletten zu Stückpreisen zwischen € 4,-- und € 8-, das Amphetamin zu Grammpreisen zwischen € 7,70 und 15,-- teils auf Kommissionsbasis, an unbekannte und bekannte Subverteiler verkaufte bzw Drogenkonsumenten weitergab,
b) ein Suchtgift in einer zumindest 10-fachen großen Menge (§ 28 Abs 6 SMG), nämlich insgesamt zumindest 5.200 Stück Ecstasy-Tabletten (Wirkstoffgehalt ca 1.300 g MDMA.HCI), teils als Beteiligter gemäß § 12 2. Alternative StGB, gewerbsmäßig teils aus Polen, teils zumindest aus Deutschland aus- und nach Österreich eingeführt, indem er gewinnbringend die Drogen anlässlich dreier Fahrten selbst mit dem Pkw von Frankfurt an der Oder bzw Regensburg nach Linz verbrachte und in drei weiteren Fällen die gesondert verfolgten X und X sowie X zur Durchführung von Suchtgifttransporten aus X und Frankfurt an der Oder anheuerte,
2.) am 23.5.2005 in Wels X durch Versetzen eines Faustschlags ins Gesicht, wodurch dieser ein Hämatom und eine Schwellung im Bereich des linken Auges, Nasenbluten und eine blutende Wunde im Bereich des Mundes erlitt, vorsätzlich am Körper verletzt.
X hat hiedurch
zu 1.) a) das Verbrechen nach § 28 Abs 2, 4. Fall, Abs 3,
1. Fall und Abs.4 Z3. SMG,
zu 1.) b) die Verbrechen nach § 28 Abs 2, 2. und 3. Fall, Abs 3, 1. Fall SMG, teils
als Beteiligter gemäß § 12 2. Alternative StGB,
zu 2.) das Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB begangen und
wird hiefür unter Bedachtnahme auf § 28 Abs 1 StGB nach §28 Abs 4 SMG zur
Freiheitsstrafe von dreißig Monaten
sowie gemäß § 389 StPO zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens
v e r u r t e i l t.
Gemäß § 38 Abs 1 Z 1 StGB wird die Vorhaft vom 21.12.2004, 20.55 Uhr, bis 20.4.2005, 12.00 Uhr, vom 28.4.2005, 4.00 Uhr, bis 20.5.2005, 10.50 Uhr, und vom 20.6.2005, 19.50 Uhr, bis 19.7.2005, 11.25 Uhr, auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet.
Gemäß § 43a Abs 4 StGB wird ein Teil der verhängten Freiheitsstrafe von 20 Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.
Der nicht bedingt nachgesehene Teil der Freiheitsstrafe beträgt zehn Monate."
Bei der Strafbemessung war mildernd das umfassende Geständnis sowie die teilweise Sicherstellung des Suchtgiftes. Erschwerend war das Zusammentreffen von Verbrechen mit einem Vergehen.
Das Bezirksgericht Linz hat mit Urteil vom 13.3.2007, AZ: 18 U 209/06t, zu Recht erkannt:
Das Landesgericht Linz hat mit Urteil vom 9.7.2009, 27 Hv 94/09i, zu Recht erkannt:
Vom Verhandlungsleiter befragt, wie er zu den strafrechtlichen Verurteilungen heute stehe, gab er Folgendes an: "Das Urteil des Landesgerichtes Linz vom 13. Februar 2003 betrifft eine gefährliche Drohung gegenüber meiner damaligen Gattin und einer ihrer Freundinnen. X war eine Cousine. Es war vereinbart, dass ich sie heiraten sollte. Die Beziehung war von Anfang an problematisch, da wir uns nicht liebten. Es handelte sich um eine von den Eltern arrangierte Ehe. Die gefährliche Drohung am 15. Juli 2002 ist auf die Spannungen während der Trennungsphase bzw. der Scheidung zurückzuführen. Mir tut die Straftat heute sehr leid."
Vom Verhandlungsleiter zum Urteil des Landesgerichtes Wels vom 19. Juli 2005, Zahl 12 Hv 102/2005d, befragt, gab er an, dass er im Jahr 2004 einen problematischen Freundeskreis hatte. Weiters: "Über diesen Freundeskreis wurde ich in die Suchtgiftkriminalität hineingezogen. Es tut mir sehr leid, dass ich straffällig wurde. Ich habe für diese Straftaten gebüßt. Ich habe mich gebessert."
Vom Verhandlungsleiter zur strafrechtlichen Verurteilung durch das BG Linz vom 13. März 2007 befragt, gab er an, dass er sich nach der Entlassung aus der Haft am 14. März 2010 von Grunde auf gewandelt habe. Weiters: "Ich gehe einer Erwerbstätigkeit nach. Ich verbringe meine Freizeit mit meiner Familie, genau genommen mit meiner Gattin und den Schwiegereltern. Natürlich verbringe ich auch Zeit mit den eigenen Eltern. Suchtgift ist für mich schon lange kein Thema mehr. Ich habe seit dem mir vom Bezirksgericht Linz im Urteil vom 13. März 2007 angelasteten Zeitraum kein Suchtgift mehr konsumiert. Ich absolvierte nach der Haft ein Training zum Abbau von Aggressionen. Ich werde dem Verwaltungssenat den Nachweis hierüber gemeinsam mit dem Schulzeugnis vorlegen."
Vom Verhandlungsleiter zur letzten strafrechtlichen Verurteilung befragt, gab er an, dass die Verurteilung wegen Automatenbetrugs erfolgte. Weiters: "Ich wurde zu einer unbedingten Haftstrafe von 7 Monaten verurteilt. Auch diese strafrechtliche Verurteilung ist auf meinen damals problematischen Freundeskreis zurückzuführen. Wie schon erwähnt, habe ich mich seither grundlegend gebessert. Ich verweise auf mein Wohlverhalten seit der Entlassung aus der gerichtlichen Strafhaft."
Festzustellen ist weiters, dass der Bw über einen Niederlassungsnachweis verfügt.
Die Gruppe X ("X") führte mit Schreiben vom 11.4.2012 aus, ein endgültiges Aufenthaltsverbot für Herrn X wäre für das Unternehmen existenzgefährdend und würde bedeuten, dass sie Herrn X Informationen und Aufklärungen für das Unternehmen und die Strafverfolgungsbehörden nicht mehr in Anspruch nehmen könnten.
Der Bw heiratete am 27.4.2010 die nicht freizügigkeitsberechtigte österreichische Staatsbürgerin X. Seither ist er "Familienangehöriger" im Sinn des § 2 Abs. 4 Z. 12 Fremdenpolizeigesetz (FPG). Familienangehörige unterliegen gem. § 65b FPG der Visumpflicht. Für sie gelten die Bestimmungen für begünstigte Drittstaatsangehörige nach den §§ 41a, 65a Abs. 2, 66, 67 und 70 Abs. 3.
§ 66 Abs 1 FPG idF BGBl I Nr. 38/2011 lautet:
EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige können ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden; oder sie bereits das Daueraufenthaltsrecht (§§ 53a, 54a NAG) erworben haben; im letzteren Fall ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.
§ 67 Abs 1 FPG idF BGBl I Nr. 38/2011 lautet:
Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.
Ein Aufenthaltsverbot kann gemäß § 67 Abs 2 FPG für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden.
Bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes ist gemäß § 67 Abs 4 FPG auf die für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen. Die Frist beginnt mit Eintritt der Durchsetzbarkeit zu laufen.
Artikel 27 Abs 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeitsrichtlinie) lautet wie folgt:
Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.
Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.
Artikel 28 Abs 2 der Freizügigkeitsrichtlinie lautet:
Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.
Artikel 28 Abs 3 der Freizügigkeitsrichtlinie lautet:
Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie
a) ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder
b) minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.
Die Europäische Kommission äußerte sich in ihrer Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat vom 2.7.2009, KOM(2009) 313 endgültig, wie folgt:
"Die Mitgliedstaaten können die Freizügigkeit von EU-Bürgern aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit einschränken. Kapitel VI der Richtlinie gilt für jede aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit getroffene Maßnahme, die das Recht der unter die Richtlinie fallenden Personen berührt, unter den gleichen Bedingungen wie die Angehörigen des Aufnahmemitgliedstaats in diesen Mitgliedstaat frei einzureisen und sich dort frei
aufzuhalten.
..........
Restriktive Maßnahmen können nur nach einer Einzelfallprüfung getroffen werden, in der festgestellt wird, dass das persönliche Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats berührt.
..........
EU-Bürger und deren Familienangehörige, die im Aufnahmemitgliedstaat das Recht auf Daueraufenthalt genießen (nach fünf Jahren), dürfen nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausgewiesen werden. Gegen Unionsbürger, die ihren Aufenthalt seit mehr als zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat haben, und Kinder darf eine Ausweisung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit (d. h. nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung) verfügt werden. Es muss klar zwischen ‚normalen’, ‚schwerwiegenden’ und ‚zwingenden’ Ausweisungsgründen unterschieden werden. Die Mitgliedstaaten sind grundsätzlich nicht verpflichtet, bei der Berechnung der Aufenthaltsdauer nach Artikel 28 die tatsächlich im Gefängnis verbrachte Zeit anzurechnen, wenn keine Bindung zum Aufnahmemitgliedstaat besteht."
Der österreichische Gesetzgeber unterscheidet in den Bestimmungen des § 66 Abs 1 letzter Satz und § 67 Abs 1 FPG zwischen "normalen", "schwerwiegenden" und "zwingenden" Ausweisungsgründen. Auch wenn § 66 Abs 1 letzter Satz FPG dem Wortlaut zufolge nur die Ausweisung betrifft, muss diese Bestimmung auch im Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes beachtet werden. Aus Sicht des Gemeinschaftsrechts handelt es sich sowohl bei einem Aufenthaltsverbot als auch bei einer Ausweisung um "restriktive Maßnahmen", die nur nach Maßgabe der Bestimmungen des Artikel 27 und 28 der Freizügigkeitsrichtlinie zulässig sind.
Der für Angehörige von nicht freizügigkeitsberechtigten Österreichern geltende Verweis des § 65b auf die u.a. für begünstigte Drittstaatsangehörige geltenden Regelungen umfasst grundsätzlich nicht den die Ausweisung betreffenden § 66 FPG (vgl. VwGH vom 7.2.2008, 2006/21/0255). Es handelt sich um einen "Leerverweis".
Gegen den Bw sind gemäß § 65b FPG "restriktive Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit" nur nach Maßgabe des § 67 Abs 1 FPG zulässig.
Der Verwaltungsgerichtshof führte in seinem Erkenntnis vom 9.11.2011, Gz: 2011/22/0264, aus, dass – um nicht auflösbare Wertungswidersprüche zu vermeiden – auch im Fall der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nach § 67 Abs. 1 FPG zu prüfen ist, ob dem eine "Aufenthaltsverfestigung" nach § 64 Abs. 1 FPG entgegensteht.
Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf gem. § 64 Abs. 1 FPG eine Ausweisung gem. § 62 und ein Aufenthaltsverbot gem. § 63 nicht erlassen werden, wenn
1. ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gem. § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl. Nr. 311, verliehen hätte werden können oder
2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.
§ 64 Abs. 1 idF. BGBl. I Nr. 38/2011, enthält anders als die Vorgängerbestimmung des § 61 Z. 4 FPG nicht die Einschränkung, wonach die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes im Fall des Vorliegens bestimmter Verurteilungen doch wieder zulässig wäre.
Lt. ständiger Rechtsprechung des VwGH (vgl. Erkenntnis vom 16.10.2007, Zl. 2006/8/0228) gilt eine Person, die erst im Alter von 4 Jahren oder später nach Österreich gekommen ist, grundsätzlich nicht als "von klein auf im Inland aufgewachsen".
Der für die Beurteilung nach § 64 Abs. 1 Z. 1 FPG maßgebliche Zeitpunkt liegt in der Verwirklichung des ersten der von der Behörde zulässigerweise zur Begründung des Aufenthaltsverbotes herangezogenen Umstände, das sind vorliegend die dem Aufenthaltsverbot zugrunde liegenden Straftaten (vgl. VwGH vom 22.7.2011, Gz: 2009/22/0179).
Mit dem Urteil des Landesgerichtes Linz vom 13.2.2003, Zl. 33 Hv 201/02 h, wurde eine – bedingte – dreimonatige Freiheitsstrafe festgesetzt. Diese Verurteilung erfüllt daher nicht den Ausschlussgrund nach § 10 Abs. 1 Z. 2 Staatsbürgerschaftsgesetz, der auf eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten abstellt.
Im vorliegenden Fall sind die dem strafrechtlichen Urteil des Landesgerichtes Wels vom 19.7.2005, Zl. 12 Hv 102/05d, bzw dem Urteil des Amtsgerichtes Passau zugrunde liegenden Straftaten ausschlaggebend. Die Straftaten begannen Anfang 2004. Es ist daher zu beurteilen, ob dem Bw Anfang 2004 gem. § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes in der damals geltenden Fassung (BGBl. I Nr. 124/1998) verliehen hätte werden können. Eine Verleihungsmöglichkeit in anderen Zeitpunkten vermag den Aufenthalts-Verbotsgrund des § 64 Abs. 1 Z. 1 FPG nicht zu verwirklichen (vgl. VwGH vom 24.9.2009, Gz: 2007/18/0653). Der Bw hatte damals schon seit mindestens 10 Jahren seinen Hauptwohnsitz ununterbrochen im Bundesgebiet (vgl. § 10 Abs. 1 Z. 1 StbG). Die BPD hielt im AV 7. März 2006 fest: "Aufenthaltsverbot gemäß § 61 Z 3 FPG 2005 nicht mehr möglich". Jedoch geht aus dem Versicherungsdatenauszug hervor, dass mit 26.4.2003 das Beschäftigungsverhältnis bei der Fa. X geendet hatte und erst mit 10.5.2004 ein Beschäftigungsverhältnis mit der Fa. X begründet wurde und dazwischen keine Versicherungszeiten aufscheinen. Der Bw wusste nicht, ob bzw. was er in dem dazwischen liegenden Zeitraum gearbeitet hatte. Er gab an, dass ihn vermutlich seine Eltern unterstützt hätten. Der Bw war bereits volljährig. Unterstützungsleistungen durch seine Eltern stellen daher keine angemessene Sicherung seines Lebensunterhaltes dar. § 10 Abs. 1 Z. 7 StbG macht die Verleihung der Staatsbürgerschaft davon abhängig, dass der Lebensunterhalt des Fremden hinreichend gesichert ist oder ihn an seiner finanziellen Notlage kein Verschulden trifft. Diese Bestimmung steht der Verleihung der Staatsbürgerschaft Anfang 2004 entgegen. Somit ist keine Aufenthaltsverfestigung nach § 64 Abs. 1 FPG eingetreten.
Der Bw verfügt über einen Niederlassungsnachweis, der gem. der NAG-DV als "Daueraufenthalt-EG" gilt. Die vorliegenden strafrechtlichen Verurteilungen erfüllen eindeutig den Tatbestand nach § 64 Abs. 4 und Abs. 5 FPG.
Der Aufenthalt des Bw in Österreich überschreitet jedenfalls schon 10 Jahre, selbst wenn man die Haftzeiten nicht miteinrechnet. Ein Aufenthaltsverbot ist gem. § 67 Abs. 1 FPG nur dann zulässig, wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden könnte, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.
Die im fünften Satz des Abs. 1 des § 86 FPG vor FrÄG 2011 vorgenommene Reduktion der Zulässigkeit eines Aufenthaltsverbots auf eine "nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich" folgt der Textierung des Art 28 Abs 3 der Unionsbürger-RL. Entgegen den EBRV handelt es sich dabei nicht bloß um eine Anpassung an die Terminologie der Unionsbürger-RL sondern um eine erhebliche Einschränkung im Sinne einer Konzentration auf Fälle schwerer Kriminalität. Dies wird noch deutlicher, wenn zur Interpretation dieses Begriffes der entsprechende Begriff der RL herangezogen wird, wonach es "zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit" bedarf. Der EuGH hat dazu jüngst (23. 11. 2010, C 145/09, Baden-Württemberg gegen Panagiotis Tsakouridis ) den Rahmen abgesteckt. Demnach:
- sind von diesem Begriff sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst;
- handelt es sich um Sachverhalte, die die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können;
- kann die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität ein solcher zwingender Grund sei;
- setzt eine solche Maßnahme, wenn sie angesichts der außergewöhnlichen Schwere der Bedrohung für den Schutz der Interessen, die mit ihr gewahrt werden sollen, erforderlich ist, voraus, dass dieses Ziel unter Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer im Aufnahmemitgliedstaat des Unionsbürgers und insbesondere der schweren negativen Folgen, die eine solche Maßnahme für Unionsbürger haben kann, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, nicht durch weniger strikte Maßnahmen erreicht werden kann;
- eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren kann nicht zu einer Ausweisungsverfügung führen, ohne dass die folgenden Umstände berücksichtigt werden: das persönliche Verhaltens der betroffenen Person, die gegebenenfalls zu der Zeit zu beurteilen ist, zu der die Ausweisungsverfügung ergeht, und zwar nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung, ist gegen die Gefahr abzuwägen, die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Staat, in den er vollständig integriert ist, zu gefährden.
Im Ergebnis läuft dies auf eine Handhabung des Aufenthaltsverbots als Folge der Gefahr erheblicher Kriminalität in der bereits von der jüngeren Judikatur des VwGH eingeschlagenen Richtung (vgl. u.a. VwGH vom 26. September 2007, Zl. 2007/21/0197, 26. Jänner 2010, Zl. 2009/22/0271) hinaus, freilich mit der nunmehr eindeutigen Beschränkung auf Fälle schwerer Kriminalität einerseits und auf das gänzliche Fehlen jeglichen gelinderen Mittels andererseits (s dazu auch Riel-Schrefler-König-Szymanski-Schmalzl, FPG § 86 Anm. 2b).
Die strafrechtlichen Verurteilungen des Bw begründen noch keine maßgebliche und nachhaltige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich.
Aus diesem Grund war spruchgemäß zu entscheiden.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.
Hinweis:
1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einer bevollmächtigten Rechtsanwältin oder einem bevollmächtigten Rechtsanwalteingebracht werden. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.
2. Im gegenständlichen Beschwerdeverfahren sind Stempelgebühren für die Beschwerde von 77,70 Euro angefallen.
Mag. Wolfgang Weigl
Beachte: Beschwerde gegen vorstehende Entscheidung wurde abgelehnt. VwGH vom 28. August 2012, Zl.: 2012/21/0143-3