Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-730121/10/SR/ER/JO

Linz, 06.07.2012

E r k e n n t n i s

 

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Christian Stierschneider über die Berufung der X, geb. X, StA von Vietnam, vertreten durch X, Rechtsanwältin in X, gegen den Bescheid des Polizeidirektors der Stadt Wels vom 15. September 2010, AZ: 1-1016452, betreffend eine Ausweisung der Berufungswerberin nach dem Fremdenpolizeigesetz, zu Recht erkannt:

 

 

            I.      Der Berufung wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos aufgehoben.

 

        II.      Eine Rückkehrentscheidung ist auf Dauer unzulässig.

 

 

Rechtsgrundlage:

§ 66 Abs. 4 iVm. § 67a Abs. 1 Z 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG

 

 

 

Entscheidungsgründe:

 

1. Mit Bescheid des Polizeidirektors der Stadt Wels vom 15. September 2010, AZ: 1-1016452, wurde gegen die Berufungswerberin (im Folgenden: Bw) auf Basis der §§ 53 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 – FPG in der zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Fassung, die Ausweisung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich angeordnet. Gemäß § 58 FPG wurde die aufschiebende Wirkung gegen diesen Bescheid aberkannt.

 

Neben der Wiedergabe der angewendeten Rechtsvorschriften führt die belangte Behörde zum Sachverhalt im Wesentlichen aus:

 

Die Bw sei am 20. Jänner 2004 illegal ins Bundesgebiet der Republik Österreich eingereist und habe am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Mit Bescheid des Bundesasylamts sei der Asylantrag gemäß § 7 und § 8 AsylG idgF. negativ entscheiden worden. Eine dagegen eingebrachte Beschwerde sei mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 29. Oktober 2008, rechtskräftig seit 4. November 2008, negativ entscheiden worden. Seither sei die Bw unrechtmäßig in Österreich aufhältig.

Ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels beim Magistrat Wels vom 10. Juni 2009 sei im Wege der BPD Wels an die Sicherheitsdirektion Oberösterreich mit einer Stellungnahme übermittelt worden.

Am 12. August 2010 sei der Bw zu Handen ihrer Rechtsvertreterin eine Aufforderung zur Stellungnahme betreffend der beabsichtigten Ausweisung aus Österreich von der Fremdenpolizei Wels übermittelt worden. Die Bw habe keine Stellungnahme abgegeben.

 

Aus ihrem – bis zur Erlassung des bekämpften Bescheids – über sechsjährigen Aufenthalt sei der Bw ein gewisses Maß an Integration zuzugestehen. Die Ausweisung greife vor allem in das Privatleben der Bw ein, weshalb eine Abwägung der Interessen der Bw an der Abstandnahme von der Erlassung der Ausweisung mit den Interessen der Republik Österreich zu erfolgen habe.

Die Bw sei ledig und habe eine erwachsene Tochter. Dadurch, dass die Tochter im Heimatland lebe sei durch die Erlassung der Ausweisung kein Eingriff in das Familienleben der Bw zu erkennen.

Der Bw sei der unsichere Aufenthalt im Bundesgebiet seit der ersten negativen asylrechtlichen  Entscheidung bekannt gewesen.

Mit Ausnahme einer Beschäftigung vom 8. Juli 2008 bis 15. Oktober 2008 sei die Bw zu keiner Zeit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen, weshalb von keiner beruflichen Integration auszugehen sei. Die Bw sei von der Grundversorgung des Landes OÖ. unterstützt worden.

Insofern mindere sich die aufgrund der längeren Aufenthaltsdauer entstandene soziale Integration, da der Aufenthalt während des Asylverfahrens nur aufgrund eines Antrages, welcher sich letztendlich als unberechtigt erwiesen habe, temporär berechtigt gewesen sei. Der Bw sei bewusst gewesen, dass sie ein Privatleben während dieses Zeitraumes geschaffen habe, in dem sie einen unsicheren Aufenthaltsstatus gehabt habe. Sohin habe die Bw nicht von vornherein davon ausgehen dürfen, nach einem allfälligen negativen Ausgang des Asylverfahrens weiterhin in Österreich bleiben zu dürfen. Die während ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet entstandene Integration werde insofern gemindert, als die Bw zumindest seit der erstinstanzlichen asylrechtlichen Entscheidung nicht mehr davon ausgehen habe können, dass ihr eine über das Asylverfahren hinausgehende Aufenthaltsberechtigung für Österreich zukommen werde. Ihr Aufenthalt in Österreich habe somit als unsicher betrachtet werden können.

Die Integration der Bw sei ausschließlich in dem Zeitraum entstanden, in dem sie sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sei, bzw. sein hätte müssen.

Im Herkunftsland lebe die Tochter der Bw, was eine gravierende Bindung zur Heimat untermauere. Die Bw habe einen Großteil ihres Lebens im Ursprungsland verbracht, und es sei ihr somit zuzumuten, sich mit der Heimat oder außerhalb auseinanderzusetzen.

Deutschsprachkenntnisse auf Niveau A2 habe die Bw nicht nachgewiesen, was die Integration erheblich schmälere.

Die lange Dauer ihres Asylverfahrens dürfe der Bw nicht zum Nachteil gereichen. Die bloße Aufenthaltsdauer allein vermöge jedoch kein individuelles Bleiberecht zu vermitteln, vielmehr sei es unerlässlich gewesen, auch sonstige Integrationsschritte zu erbringen.

 

Bereits ein mehrmonatiger unrechtmäßiger Aufenthalt gefährde die öffentliche Ordnung in hohem Maße, die Ausweisung sei demnach gemäß § 66 Abs. 1 FPG zur Wahrung der öffentlichen Ordnung dringend geboten. Nach Abwägung der angeführten Umstände ergebe sich aus dem festgestellten Sachverhalt, dass unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK die Ausweisung zulässig sei.

 

Die belangte Behörde schließt den bekämpften Bescheid mit Erwägungen zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Berufung gegen diesen Bescheid.

 

 

2. Gegen diesen Bescheid erhob die Bw durch ihre rechtsfreundliche Vertretung rechtzeitig Berufung mit Schriftsatz vom 28. September 2010. Darin werden die Anträge gestellt, den bekämpften Bescheid dahingehend abzuändern, dass das gegen die Bw eingeleitete Ausweisungsverfahren eingestellt und die Ausweisung aufgehoben werden; der Berufung die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen; in eventu den erstinstanzlichen Bescheid zur Gänze zu beheben und zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an die Erstinstanz zurückzuverweisen.

 

Die Bw begründet ihre Berufung im Wesentlichen damit, dass sie zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen negativen Asylentscheidung nicht davon ausgegangen sei, dass ihr Asylverfahren mehr als vier Jahre später negativ beendet werde. Die Dauer und der Ausgang des Asylverfahrens seien für die Bw weder absehbar noch beeinflussbar gewesen. Die in diesem Zeitraum entstandene Integration könne daher nicht geschmälert werden.

Dass die Bw kaum berufliche Integration vorweisen könne hänge mit den ausländerbeschäftigungsrechtlichen Bestimmungen zusammen. Da sich der Wohnort der Bw nicht in einer Fremdenverkehrsregion befinde, sei es für sie als ältere Frau besonders schwierig, eine Saisonarbeit zu erlangen. Aufgrund der Rechtslage habe die Bw keine Gelegenheit zu besserer beruflicher Integration gehabt.

Das Niederlassungsgesetz 2005 habe in § 44 Abs. 4 die Möglichkeit geschaffen, dass Personen, die nachweislich vor dem 1. Mai 2004 in Österreich aufhältig waren, auch aufgrund ihres Privatlebens und ihrer Integration die Möglichkeit haben, eine Niederlassungsbewilligung in Österreich zu erlangen. Dabei sei der Umstand, ob jemand sich aufgrund eines erstinstanzlich negativen Asylverfahrens seines unsicheren Aufenthalts bewusst sein hätte müssen, außer Acht gelassen worden. Die belangte Behörde argumentiere im bekämpften Bescheid also entgegen den Intentionen des Gesetzgebers.

Dem Vorhalt, dass die Bw keine Deutschprüfung abgelegt habe, erwidert sie, dass sie bereits mehrere Integrationskurse besucht und im Niederlassungsverfahren die diesbezüglichen Zertifikate vorgelegt habe.

Die Bw habe einen großen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich, durch den sie auch die deutsche Sprache lerne. Zudem habe sie sich besondere Kenntnisse in der Altenbetreuung angeeignet. Die Bw verfüge über mehrere Empfehlungsschreiben, aus denen auch eine Einstellungszusage als Haushaltshilfe für den Fall der Erteilung eines Aufenthaltstitels hervorgehe. Die Bw wohne im Vereinsheim des Fußballvereins ASK X und sei dort sehr beliebt. Sie helfe dort bei Veranstaltungen freiwillig, unentgeltlich und spontan mit.

 

Die Bw schließt ihre Berufung mit Erwägungen zur Aberkennung der aufschiebenden Wirkung.

 

Mit Schreiben vom 29. März 2012 ergänzt die Bw ihre Berufung, indem sie Teilnahmebestätigungen von Sprachkursen, diverse Empfehlungsschreiben, ihren Mietvertrag und einen Lohnzettel samt Beschäftigungsbewilligung für den Zeitraum 8. Juli 2008 bis 31. Oktober 2008 vorlegt.

Begründend führt sie aus, dass sie seit langer Zeit im Vereinslokal des X wohne und dort allseits sehr beliebt sei. Die Bw sei sehr um Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse bemüht und spreche mittlerweile so gut Deutsch, dass eine Verständigung im Alltag problemlos möglich sei. Darüber hinaus werde sie demnächst die Deutschprüfung auf Niveau A2 ablegen.

Aufgrund der ausländerbeschäftigungsrechtlichen Situation sei die Bw noch in der Grundversorgung, habe aber bereits eine Saisonarbeitsstelle innegehabt, wo sie nach Erteilung einer entsprechende Arbeitsbewilligung jederzeit wieder zu arbeiten beginnen könne.

Wegen ihres illegalen Aufenthalts habe die Bw von der BPD Wels eine Verwaltungsstrafe in Höhe von € 1.100,-- erhalten, welche sie – trotz schwieriger finanzieller Situation – in elf Raten à € 100,-- bezahlt habe. Daraus lasse sich ihr Wille zur Einhaltung der österreichischen Gesetze ablesen. Strafrechtlich sei die Bw unbescholten.

 

Mit Schreiben vom 9. Mai 2012 legte die Bw eine Anmeldebestätigung für die Deutschprüfung auf Niveau A2 vor, mit Schreiben vom 8. Juni 2012 das Zertifikat über die bestandene Prüfung.

 

 

3. Die belangte Behörde legte zunächst den in Rede stehenden Verwaltungsakt der Sicherheitsdirektion Oberösterreich vor.

 

Mit 1. Juli 2011 trat das Fremdenrechtsänderungsgesetz, BGBl. I Nr. 38/2011 in wesentlichen Teilen in Kraft. Aus § 9 Abs. 1a FPG in der nunmehr geltenden Fassung ergibt sich, dass der Unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über die Berufung zuständig ist, weshalb der in Rede stehende Verwaltungsakt von der Sicherheitsdirektion Oberösterreich – nach Inkrafttreten der Novelle am 1. Juli 2011 – dem Unabhängigen Verwaltungssenat übermittelt wurde.

 

3.1. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde, einen aktuellen Versicherungsdatenauszug und in je einen aktuellen Auszug aus dem Elektronischen Kriminalpolizeilichen Informationssystem und des Zentralen Melderegisters.

 

3.2. Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden, da bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist (§ 67d Abs. 2 Z. 1 AVG).

 

Der Oö. Verwaltungssenat geht bei seiner Entscheidung von dem unter 1. und 2. dargestellten und unbestrittenen Sachverhalt aus.

Ergänzend stellt der Oö. Verwaltungssenat fest, dass die Bw derzeit keiner versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgeht, nach wie vor im Vereinslokal des ASK X, X wohnt und strafrechtlich unbescholten ist.

 

3.3. Der Unabhängige Verwaltungssenat ist zur Entscheidung durch eines seiner Mitglieder berufen (vgl. § 67a Abs. 1 Z 1 AVG).

 

4. In der Sache hat der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich erwogen:

 

4.1.1. Gemäß § 125 Abs. 14 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 erlassene Ausweisungen gemäß § 53 als Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter, mit der Maßgabe, dass ein Einreiseverbot gemäß § 53 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 damit nicht verbunden ist.

 

4.1.2. Im vorliegenden Fall wurde die Ausweisung auf Basis des § 53 FPG (in der Fassung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011) erlassen, weshalb diese Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne des § 52 FPG in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 anzusehen und zu beurteilen ist.

 

4.2.1. Gemäß § 52 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, ist gegen einen Drittstaatsangehörigen, sofern nicht anderes bestimmt ist, mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die Rückkehrentscheidung wird mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Berufung gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 66 Abs. 4 AVG auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

 

4.2.2. Im vorliegenden Fall ist auch von der Bw selbst unbestritten, dass sie über keinerlei Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt und somit grundsätzlich unrechtmäßig aufhältig ist. Allerdings ist bei der Beurteilung der Rückkehrentscheidung sowohl auf Art. 8 EMRK als auch § 61 FPG Bedacht zu nehmen.

 

4.3.1. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist allerdings ein Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts gemäß Abs. 1 (nur) statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Nach § 61 Abs. 1 FPG ist, sofern durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 2 FPG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

1.      die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der        bisherige          Aufenthalt des Fremden rechtmäßig war;

2.      das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3.      die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4.      der Grad der Integration;

5.      die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6.      die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7.      Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des      Asyl-          Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8.      die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem   Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren   Aufenthaltstatus bewusst waren;

9.      die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden       zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 3 FPG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein aufgrund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder 51ff. NAG) verfügen, unzulässig wäre.

 

Gemäß § 125 Abs. 20 FPG, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes, BGBl. I Nr. 38/2011 vorgenommene Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 66 als Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 61 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter.

 

4.3.2. Im Sinne der zitierten Normen ist eine Interessenabwägung – basierend auf einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung – vorzunehmen.

 

Gestützt auf die ständige Rechtsprechung der Höchstgerichte ist es grundsätzlich zulässig und erforderlich, Maßnahmen zu ergreifen, um den unrechtmäßigen Aufenthalt einer Person zu beenden, da ein solcher rechtswidriger Status fraglos dazu geeignet ist, die öffentliche Ordnung eines Staates massiv zu beeinträchtigen. Daraus folgt, dass das diesbezügliche öffentliche Interesse hoch anzusetzen ist und eine Rückkehrentscheidung grundsätzlich ein nicht inadäquates Mittel darstellt, um einen rechtskonformen Zustand wiederherzustellen. Dies gilt jedoch nur insofern, als die privaten bzw. familiären Interessen im jeweils konkreten Einzelfall nicht als höherrangig anzusehen sind.

 

In Anbetracht des mehr als 8 1/2 Jahre währenden Aufenthaltes im Bundesgebiet ist der Bw eine der Dauer ihres Aufenthaltes entsprechende Integration zu zugestehen.

 

Das Gewicht der aus der Aufenthaltsdauer ableitbaren Integration wird jedoch angesichts der ständigen Judikatur des VwGH dadurch gemindert, als der Aufenthalt der Bw während des Asylverfahrens nur aufgrund eines Antrages, welcher sich letztendlich als unberechtigt erwiesen hat, temporär berechtigt war.

 

Der Bw musste bewusst sein, dass sie ein Privatleben während eines Zeitraumes, in dem sie einen "unsicheren" Aufenthaltsstatus hatte, geschaffen hat, (vgl. etwa Erkenntnis vom 08.11.2006, Zahl 2006/18/0344 sowie Zahl 2006/18/0226 ua.). Sie durfte nicht von vornherein damit rechnen, nach einem allfälligen negativen Ausgang des Asylverfahrens weiterhin in Österreich bleiben zu dürfen.

 

Im Hinblick auf den mehr als 8 1/2 Jahre währenden Aufenthalt in Österreich ist im Besonderen auf die die jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abzustellen. Wie folgt wiedergegeben, hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 22. Dezember 2009, GZ 2009/21/0348, einer sozialen Integration, obwohl sie in einem Zeitraum entstanden ist, während dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war, ein nicht unbeachtliches Gewicht beigemessen.

 

Das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich ist in seinem Gewicht gemindert, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (E. vom 22. Oktober 2009, Zl. 2009/21/0293; E. vom 29. September 2009, Zl. 2009/21/0253; E. des VfGH vom 3. März 2008, B 825/07 mit Bezug auf die Urteile des EGMR vom 31. Jänner 2006, Rodrigues da Silva und Hoogkaamer gegen die Niederlande [Beschwerde Nr. 50435/99] und vom 31. Juli 2008, Darren Omoregie u.a. gegen Norwegen [Beschwerde Nr. 265/07]). Der EGMR stellt in den angesprochenen Urteilen darauf ab, ob das Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen bewusst waren, der Aufenthaltsstatus eines Familienmitgliedes sei derart, dass der Fortbestand des Familienlebens im Gastland von vornherein unsicher ist. Sei das der Fall, bewirke eine Ausweisung des ausländischen Familienangehörigen nur unter ganz speziellen bzw. außergewöhnlichen Umständen ("in exceptional circumstances") eine Verletzung von Art 8 EMRK (vgl.: E vom 19. Februar 2009, Zl. 2008/18/0721, E. vom 30. April 2009, Zl. 2009/21/0086). In diesem Sinn ist nach der Z. 8 des § 66 Abs. 2 FPG [in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011] aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Annordnung bei der Interessensabwägung darauf Bedacht zu nehmen, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war. Freilich hat die genannte Bestimmung schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte.

 

Im Erkenntnis vom 20. Jänner 2011, Zl. 2010/22/0158, hat der Verwaltungsgerichtshof bei einer im Wesentlichen vergleichbaren Sachlage, jedoch eines knapp über 10 Jahre bestehenden Aufenthaltes, dem persönlichen Interesse des Fremden am Verbleib in Österreich ein solches Gewicht beigemessen, dass eine Ausweisung unzulässig ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat dabei wie folgt ausgeführt:

 

Der Beschwerdeführer verweist auf seine Erwerbstätigkeit und darauf, dass er sich während seines Aufenthaltes in Österreich "in privater Hinsicht sehr gut integriert" habe. Die belangte Behörde hob zwar zu Recht hervor, dass dem Beschwerdeführer bereits nach erstinstanzlicher Abweisung seines Asylantrages die Unsicherheit seines Aufenthaltsstatus bewusst war, er somit nicht mit einem legalen Aufenthalt in Österreich rechnen durfte. Sie ist auch darin im Recht, dass dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. für viele etwa das Erkenntnis vom 6. Juli 2010, 2008/22/0688). Dementsprechend haben Fremde nach Abweisung ihres Asylantrages grundsätzlich den rechtmäßigen Zustand durch Ausreise aus dem Bundesgebiet herzustellen. Demgegenüber vermag der Beschwerdeführer jedoch einen bereits über zehnjährigen Aufenthalt in Österreich für sich ins Treffen zu führen und es stellte die belangte Behörde auch fest, dass er erwerbstätig ist. Diese Umstände verleihen dem persönlichen Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich ein solches Gewicht, dass die Ausweisung unverhältnismäßig erscheint (vgl. zu ähnlichen Fällen etwa die E. vom 26. August 2010, 2010/21/0206 und 2010/21/0009).

 

4.4. Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob wegen eines besonders stark ausgeprägten persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich akzeptiert werden muss, dass die Bw mit ihrem Verhalten im Ergebnis versucht, vollendete Tatsachen ("fait accompli") zu schaffen (Hinweis E 24. Oktober 2007, 2007/21/0361), vgl. 2007/21/0074 17.07.2008.

 

Mit mehr als 8 1/2 Jahren Dauer kann die Bw auf einen relativ langen Aufenthalt in Österreich verweisen, wobei der überwiegende Teil davon rechtmäßig war.

 

Bezüglich des von der belangten Behörde ins Treffen geführten unsicheren Aufenthalts der Bw zum Zeitpunkt des Entstehens des Privatlebens ist insbesondere auf die jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen. Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass die Bw nachweislich bemüht ist, sich in Österreich zu integrieren. Davon zeugen die Unterstützungsschreiben, die Einstellungszusagen und die Tatsache, dass sie mittlerweile die Deutschprüfung auf Niveau A2 abgelegt hat.

 

Die Bw ist aufgrund fehlender entsprechender Berechtigungen bislang in Österreich nur kurzfristig einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachgegangen, verfügt aber über zwei unabhängige Einstellungszusagen, die ab Erteilung einer entsprechenden Beschäftigungsbewilligung schlagend würden. Darüber hinaus ist die Bw entsprechend den Unterstützungsschreiben bereits jetzt bemüht, jederzeit freiwillig und unentgeltlich unterstützend tätig zu werden.

 

Es kann der Bw wohl nach einem mehr als 8 1/2 jährigen Aufenthalt ein hohes Maß an Integration zugemessen werden. Dafür sprechen auch die mittels Zertifikat des Niveaus A2 dokumentierten und von den Unterstützern hervorgehobenen Deutschkenntnisse.

 

Weiters genießt im vorliegenden Fall die soziale Integration einen hohen Stellenwert. Durch die von der Bw ua. durch die von ihr mittels Unterstützungserklärung geltend gemachten und von der belangten Behörde nicht widerlegten Kontakte zu österreichischen Staatsangehörigen ist belegt, dass sie sozial integriert ist. Die Unterstützer sprechen darüber hinaus vom Willen der Bw, ihre Deutschkenntnisse durch die Kontakte zu Österreichern zu verbessern.

 

Der von der belangten Behörde festgestellte sporadische telefonische Kontakt der Bw zu ihrer mittlerweile volljährigen Tochter, die sie im Alter von einem Monat in Pflege gegeben hat, reicht nach Ansicht des erkennenden Mitglieds des Unabhängigen Verwaltungssenats Oö. nicht aus, um – wie von der belangten Behörde festgestellt – von einer "gravierenden Bindung zur Heimat" sprechen zu können. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Bw, die außer ihrer Tochter keine Verwandten mehr im Herkunftsland hat und bereits vor mehr als 8 1/2 Jahren sämtliche Besitztümer im Herkunftsstaat verkauft hat, um ihre Ausreise zu finanzieren, über keine wesentlichen Kontakte und Anknüpfungspunkte zu ihrem Herkunftsstaat mehr verfügt. Nach dem in Rede stehenden Zeitraum und unter den geschilderten Umständen ist demnach nachvollziehbar, dass die Bindung an den Heimatstaat keine relevante Ausprägung mehr erreicht, auch wenn die Bw erst im Alter von 41 Jahren nach Österreich eingereist ist.

 

Die Bw ist strafgerichtlich unbescholten.

 

Auch wenn die Bw die im Erkenntnis des VwGH vom 20. Jänner 2011, Zl. 2010/22/0158 – exemplarische – Aufenthaltsdauer von 10 Jahren unterschritten hat, ist gemäß der oben angeführten Judikatur des VwGH und VfGH in diesem Fall hinsichtlich der Frage eines unsicheren Aufenthalts nach § 61 Abs. 2 Z. 8 FPG bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände festzustellen, dass die für die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sprechenden privaten Elemente die des öffentlichen Interesses gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK überwiegen.

 

Nicht zuletzt wird auch davon auszugehen sein, dass gemäß § 61 Abs. 2 Z. 9 FPG von einer eher in die Sphäre der Behörden fallenden langen Verfahrensdauer gesprochen werden muss, zumal in den asylrechtlichen Entscheidungen nicht über eine Ausweisung des Bw abgesprochen wurde.

 

Die dargelegten Umstände verleihen dem persönlichen Interesse der Bw an einem Verbleib in Österreich ein solches Gewicht, dass die Rückkehrentscheidung unverhältnismäßig ist.

 

4.5. Im Ergebnis ist eine Rückkehrentscheidung im Hinblick auf das Privatleben der Bw auf Dauer unzulässig.

 

4.5. Es war daher der Berufung stattzugeben, der angefochtene Bescheid aufzuheben und spruchgemäß zu entscheiden.

 

5. Da die Bw ausreichend der deutschen Sprache mächtig ist, konnte gemäß      § 59 Abs. 1 FPG von der Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung Abstand genommen werden.

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

Hinweis:

1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einem Rechtsanwalt unterschrieben sein. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

2. Im Verfahren sind Stempelgebühren in Höhe von 58,60 Euro (Eingabe- und Beilagengebühr) angefallen.

 

 

 

Mag. Christian Stierschneider

 

 

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