Linz, 18.05.2010
E r k e n n t n i s
Der unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich erkennt durch sein Mitglied Dr. Bleier über die Berufung des Herrn X, gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck vom 07.04.2010, Zl. VerkR96-5961-2010-Heme, zu Recht:
I. Der Berufung wird Folge gegeben; das angefochtene Straferkenntnis wird behoben und das Verwaltungsstrafverfahren nach § 45 Abs.1 Z1 VStG eingestellt.
II. Es entfallen sämtliche Verfahrenskostenbeiträge.
Rechtsgrundlagen:
Zu I.: § 66 Abs.4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, BGBl. Nr. 51/1991, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 135/2009 – AVG iVm § 24, § 45 Abs.1 Z1, § 51 Abs.1, § 51e Abs.1 Verwaltungsstrafgesetz, BGBl. Nr. 52/1991, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 135/2009 – VStG.
Zu II.: § 66 Abs.1 VStG.
Entscheidungsgründe:
1.1. Begründend führte die Behörde erster Instanz Folgendes aus:
2. In der dagegen fristgerecht erhobenen Berufung tritt der Berufungswerber mit folgenden Ausführungen dem Straferkenntnis entgegen:
3. Der unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einschau in den erstbehördlichen Verfahrensakt. In Vorbereitung der Berufungsverhandlung wurde im Wege der Verkehrstechnik eine Ausarbeitung des Videomaterials angefordert, welche jedoch offenbar irrtümlich bereits überspielt worden sein dürfte. Vom Amtssachverständigen wurde aus dem der Anzeige beigeschlossenen Bildmaterial eine fachliche Stellungnahme erstattet.
3.1. Da keine 2.000 Euro übersteigende Geldstrafe verhängt wurde, ist der unabhängige Verwaltungssenat durch das nach der Geschäftsverteilung zuständige Einzelmitglied zur Entscheidung berufen. Die Durchführung einer Berufungsverhandlung konnte unterbleiben (§ 51e Abs.2 Z1 VStG).
4. Sachverhalt laut Aktenlage:
Der vom Berufungswerber gelenkte Kleinbus ist auf dem Foto Nr.1 ([oberes Bild] - 11:07:59:16) am linken Fahrstreifen unmittelbar hinter dem Fahrzeug des Berufungswerbers, zu diesem vielleicht einen Meter nach links versetzt, relativ knapp dahinter ist ebenfalls ein Pkw sichtbar. Am rechten Fahrstreifen findet sich die Spitze einer aus mehreren Fahrzeugen bestehenden Kollonne und etwa 50 m vor dem Vorderfahrzeug des Berufungswerbers bzw. 40 m vor seinem Vordermann, ist auf dem rechten Fahrstreifen ein noch wahrscheinlich deutlich langsamer fahrender Klein-Lkw sichtbar, welcher den Grund für das vielleicht unvermittelte Umspuren des Vorderfahrzeuges und die dadurch bedingte Abstandsverkürzung umittelbar vor dem Messpunkt gebildet haben könnte.
Am Foto Nr. 2 (11:08:03:04), also etwa mehr als drei Sekunden später, befindet sich das Fahrzeug des Berufungswerbers in eben dieser Position auch noch hinter dem Pkw, wobei der Klein-Lkw auf der rechten Fahrspur am Bild 2 (unteres Bild) bereits überholt ist. Das Vorderfahrzeug scheint bereits im Begriff des Umspurens nach rechts zu sein, wobei der Berufungswerber fast eine Fahrzeugbreite zum Vorderfahr-zeug nach links versetzt positioniert ist.
Die Verantwortung des Berufungswerbers scheint schon aus dieser Bildabfolge durchaus glaubwürdig, weil sich, ob des deutlich langsamer fahrenden Klein-LKW auf der rechten Fahrspur, das Vorderfahrzeug knapp vor der Aufnahme des Bildes 1 unmittelbar vor das Fahrzeug des Berufungswerbers gesetzt haben könnte. In der begründeten Erwartung des ehesten Rückspurens nach rechts nach dem Überholen des Klein-LKW´s, verblieb der Berufungswerber durch bloßes Weggehen vom Gas für die auf der Bildfolge ersichtlichen dreieinhalb Sekunden an diesem Fahrzeug. Unter Hinweis auf die Verkehrspraxis räumt dies der Berufungswerber sogar unumwunden ein. Das er in dieser Situation nicht schon durch plötzliches Abbremsen den Sicherheitsabstand für die bereits in wenigen Sekunden zu erwartende freie linke Spur herstellte, sondern nur den Fuß vom Gas nahm um seine allenfalls etwas höhere Ausgangsgeschwindigkeit auf das Vorderfahrzeug lediglich anzupassen, scheint in dieser Situation durchaus der Verkehrspraxis zu entsprechen.
Dem Berufungswerber meint dazu, es hätte wohl kaum ein anderer Autofahrer eine abrupte Bremsung eingeleitet, zumal die dadurch herbeigeführte Störung des Nachfolgeverkehrs allenfalls sogar zu einem Auffahren führen hätte können.
Da letztlich die Dauer der Abstandsverkürzung offenbar nur auf wenige Sekunden angelegt schien, kann hier von dem verpönten, sogenanntes "Drängeln" nicht die Rede sein. Dies wäre am Video auf einer längeren Sichtstrecke nachvollziehbar, sofür sich aber hier gerade keine Indizien ergeben. Das der Anzeige beigefügte Fotomaterial reicht jedenfalls nicht für einen Beweis einer vom Berufungswerber schuldhaft herbeigeführten Abstandsverkürzung.
4.1. Der von h. in Vorbereitung der Berufungsverhandlung mit der Beischaffung der Videosequenz beauftragte Amtssachverständige, Dipl.-Ing. (X) X, brachte die irrtümliche Überspielung dieses Videobandes bei der Polizei in Erfahrung.
Eine nachträgliche Auswertung bzw. eine Beurteilung wie letztlich der zu geringe Tiefenabstand entstand ist gemäß der Stellungnahme des Amtssachverständigen vom 12.5.2010 daher aus technischer Sicht nicht möglich.
Unabhängig davon vermeint der Sachverständige jedoch, dass „auf Grund der Programmierung des Meßsystems festgehalten werden könne, dass der Vordermann in Bezug auf den Berufungswerber oder der Berufungswerber in Bezug auf den Vordermann - seine Geschwindigkeit im Messzeitraum ( t = 3,52 s – Zeitunterschied zwischen 1. Bild und 2. Bild ) um max. 4, 25 Km/h verringert hat.
Daraus ergebe sich eine max. Verzögerung von ~ 0, 33 m/s². Das ist eine Verzögerung die sich z.B. auf Grund des Luftwiderstandes ergibt, wenn man vom Gas geht. Das Bremspedal wurde dabei nicht betätigt.
Der Berufungswerber fuhr daher (möglicherweise, so der SV) 3,52 s hinter dem Vordermann nach ohne die Betriebsbremse betätigt zu haben.
Wenn man davon ausgeht, das der Berufungswerber vom herausfahrenden Vordermann überrascht wurde und man ihm eine Reaktionszeit von 1s zubilligt, hätte er t =2,52 s zum Abbremsen gehabt. Hätte er in den t = 2, 52 s eine Betriebsbremsung ( 3 m/s² ) durchgeführt, um seinen Tiefenabstand zu vergrößern, so hätte er dabei seine Geschwindigkeit um ca. 27 Km/h reduziert. Das VKS - Messystem hätte dann die Messung von sich aus verworfen, da der Geschwindigkeitsunterschied zwischen 1. und 2. Messung größer als 5 % ( 4,25 km/h ) gewesen wäre.
Bei einer Reaktionszeit von 1 s, hätte der Beschuldigte ab einer Bremsverzögerung von über 0,47 m/s², bei t = 2,52 s Bremszeit einen Geschwindigkeitsunterschied erreicht, der zur automatischen Verwerfung der Messung geführt hätte, wenn der Vordermann seine Geschwindigkeit beibehielt.
Geht man davon aus das der Vordermann leicht gebremst hat ( a ~ 0,33 m/s² / t = 3, 52 s ), so hätte der Berufungswerber nach 1 s Reaktionszeit, bei noch vorhandener Bremszeit von t = 2,52 s, ab einer Bremsverzögerung von mehr als 0,91 m/s² eine Geschwindigkeitsdifferenz erreicht die zu einer automatischen Verwerfung der Messung geführt hätte.
Im Hinblick auf die automatische Kontrolle beim Meßsystem das von der Polizei verwendet wird hält der Amtssachverständige fest, das wenn man davon ausgeht, das der Vordermann unmittelbar vor der Messung den Spurwechsel durchgeführt hat, der Berufungswerber nach einer Reaktionszeit von 1 s seinen PKW mit mehr als 0,91m/s² abbremsen hätte müssen um die Messung der Polizei automatisch zu annullieren.
Da keine Annullierung stattfand, hat der Berufungswerber in der ihm zu Verfügung stehenden Bremszeit t = 2, 52 s ( 1s Reaktionszeit berücksichtigt ) max. mit einer Verzögerung von 0,91 m/s² gebremst. Das entspricht noch keiner Betriebsbremsung ( a ~ 3 m/s² ) wie sie im " normalen " Verkehrsgeschehen immer wieder gefordert wird.
Der Berufungswerber habe es daher aus technischer Sicht gesehen unterlassen die mögliche, für ihn ungefährliche folgende Reaktion zu setzten. Nach dem der Vordermann 1 s auf der Überholspur vor ihm war (Reaktionszeit) eine verkehrsübliche Betriebsbremsung einzuleiten.
Der hinter dem BW fahrende PKW war ca. 30 – 35 m hinter dem BW. Die im Sinne des BW angesetzte Reaktionszeit von 1s, berücksichtigt nicht, das ein Spurwechsel ca. 2 – 3 s dauert und der BW daher schon reagieren kann, bevor sich der Vordermann auf seiner Fahrspur befindet. Im Sinne des BW wurden der Beginn der Reaktionszeit erst angenommen, als der Vordermann schon vollständig auf der Überholspur war.
4.2. Der Amtssachverständige setzt sich darin jedoch nicht mit der Frage auseinander, inwieweit eine unverzügliche Betriebsbremsung wegen eines plötzlich umspurenden Fahrzeuges, im Gefahrenelement gegenüber der Inkaufnahme einer kurzzeitigen Unterschreitung des Sicherheitsbstandes mit Blick auf den Nachfolgeverkehr im Einzelfall sogar kontraproduktiv sein könnte.
Die hier verfahrensgegenständliche Ausgangslage beurteilt die Berufungsbehörde dahingehend, dass Grenzfälle letztlich immer noch der Disposition eines Fahrzeuglenkers überlassen sein müssen. Wenn hier der Berufungswerber mit guten Gründen für bloß wenige Sekunden eine Bremsung vermied und den Verkehr dafür flüssig hielt, dabei insbesondere ein Auffahrrisiko für den Nachfolgeverkehr potenziell minimierte, dafür aber wenige Sekunden den Sicherheitsabstand zu seinem Vorderfahrzeug unterschritt, wird darin noch kein Fehlverhalten erblickt.
Der Berufungswerber hat sich hier offenbar in sachlicher Überzeugung von der Richtigkeit dieser Entscheidung unter Hinweis auf die Verkehrspraxis für Letzteres entschlossen. Darin war ihm auch mit sachlicher Überzeugung zu folgen. Es scheint im übrigen auch durchaus eher mit der auf Autobahnen gepflogenen Praxis im Einklang zu stehen.
In einem Aufsatz zu diesem Thema wird etwa die Abstandsproblematik in Bezug zur Dauer und die Intensität der Zwangswirkung auf den Vorausfahrenden als entscheidend erachtet. Zu berücksichtigen sind demnach immer die Umstände des Einzelfalls wie die Örtlichkeiten, die Annäherungsgeschwindigkeit, die Dauer sowie die Art und Weise der Einwirkung auf den Vorausfahrenden durch die Kürze des Abstandes (den Einsatz von Hupe, Lichthupe oder den Fahrtrichtungsanzeiger). Unter Berücksichtigung der durch ein Abbremsen zur raschest möglichen Herstellung des Sicherheitsabstandes generierten Geschwindigkeitsunterschiede in einer auflaufenden Kolonne, beurteilt dies der Autor keineswegs als positiv, da mit deutlichem Bremsen von voraus fahrenden Fahrzeugen in der Kolonne selbst große Geschwindigkeitsunterschiede geschaffen werden, die nach hinten über schärfere Bremsungen abgebaut werden müssen[1].
Ein Nachweis eines Drängelns – ein dem Berufungswerber als Verschulden zuzurechnedes Abstandsproblem iSd § 18 Abs.1 StvO - kann daher im Zeitfenster von dreieinhalb Sekunden (noch) nicht in einer für das Strafverfarhen erforderlichen Sicherheit erwiesen gelten.
5. Rechtlich hat der unabhängige Verwaltungssenat erwogen:
Gemäß § 18 Abs.1 Straßenverkehrsordnung 1960 hat der Lenker eines Fahrzeuges stets einen solchen Abstand zum nächsten vor ihm fahrenden Fahrzeug einzuhalten, dass ihm jederzeit das rechtzeitige Anhalten möglich ist, auch wenn das vordere Fahrzeug plötzlich abgebremst wird. Davon kann jedenfalls dann noch nicht die Rede sein, wenn ein Vorderfahrzeug durch knappes Umspuren bloß kurzfristig eine Abstandsverkürzung herbeiführt. Eine solche Auslegung scheint insbesondere auch im Sinne der Rechtssicherheit geboten, weil sonst gleichsam jede in einem zu knappen Umspuren gründende Abstandsverkürzung einen derart Betroffenen Pkw-Lenker einerseits in Beweisnotstand bringen würde, und andererseits der gebotene Sicherheitsbstand nur durch ein abruptes Abbremsen in kürzest möglicher Zeit hergestellt werden müsste, was wohl kaum im Einklang mit der realen Situation auf Autobahnen wäre, zumal eine derartige Reaktion den Verkehrsfluss nach hinten nachhaltiger stören und gefährden würde, als dies im „kuzzeitigen Abfedern“ auf Kosten des Sicherheitsabstandes zum Vordermann der Fall ist.
Da sich hier relativ knapp hinter dem Berufungswerber ebenfalls ein Fahrzeug befindet, wäre mit einer unvermittelten Bremsung möglicher Weise ein deutlich höheres Gefahrenpotenzial geschaffen woden als in der Inkaufnahme der kurfristigen Abstandsverkürzung zum Vormann gegeben war. Die Situation kann nur im konkreten Einzelfall sachgerecht beurteilt werden, sodass ohne Beurteilungsmöglichkeit der situationsspezifischen Gesamtsituation am Video eine zu einem Schuldspruch ausgreichende Beweislage – selbst in der durchaus nachvollziehbaren Überlegung des Amtssachverständigen – demnach nicht erblickt werden kann.
Das sich letztlich rechnerisch eine andere und/oder allenfalls auch eine optimalere Verhaltensversion darstellen lässt, darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass ein Fahrzeuglenker je ad hoc, unter Bedachtnahme auf die subjektive Beurteilung seines momentanen Verkehrsumfeldes, zu entscheiden hat. Damit will gesagt sein, dass nicht jede noch so geringe Fehlentscheidung im Straßenverkehr zur Bestrafung führen muss.
Ein dem Schutzziel des § 18 Abs.1 StVO zuzuordnendes Drängeln kann hier mit Blick auf die sich spezifisch darstellende Verkehrssitutation jedenfalls nicht erwiesen gelten. Für diesen Beweis bedürfte es, wie oben bereits festgestellt, der Beurteilung des Fahrverhaltens im weiteren zeitlichen Kontext, der sich letztlich nur aus dem Video durch ein Zeitfenster im Bereich bis zumindest zehn Sekunden nachvollziehen ließe (vgl. h. Erk. v. 03.02.2009, VwSen-163764/5/Br/RSt).
Das angefochtene Straferkenntnis war demnach zu beheben und das Verwaltungsstrafverfahren nach § 45 Abs.1 Z1 VStG mangels Tatbeweis einzustellen.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.
Hinweis:
Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab der Zustellung eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof und/oder beim Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von den gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einem Rechtsanwalt oder einer Rechtsanwältin unterschrieben sein. Für jede dieser Beschwerden ist eine Gebühr von 220 Euro zu entrichten.
Dr. B l e i e r
[1]Dipl. Phys. Dr. Gerhart Prell, München; Quelle: www.unfallanalytik.de