Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-130629/2/WEI/Sta

Linz, 15.12.2010

 

 

 

 

E r k e n n t n i s

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mit­glied Dr. Wolfgang Weiß über die Berufung des x, geb. x, x, x, gegen das Straferkenntnis des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Linz vom 17. Dezember 2009, Zl. 933/10-564604, wegen einer Verwaltungsübertretung nach dem Oö. Parkgebührengesetz zu Recht erkannt:

 

 

I.                  Der Berufung wird Folge gegeben, das angefochtene Straferkenntnis aufgehoben und das Strafverfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 1 VStG eingestellt.

 

II.              Die Verpflichtung zur Leistung von Beiträgen zu den Kosten des Strafverfahrens entfällt.

 

Rechtsgrundlagen:

§§ 24 und 51 Verwaltungsstrafgesetz 1991 – VStG iVm § 66 Abs 4 Allgemeines Verwal­tungsverfahrens­gesetz 1991 – AVG; § 66 Abs 1 VStG.

 

 

 

Entscheidungsgründe:

 

1. Mit Straferkenntnis des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Linz vom 17. Dezember 2009, Zl. 933/10-564604, wurde der Berufungswerber (in der Folge: Bw) wie folgt für schuldig befunden:

 

"Sie haben am 7.4.2008 von 08:54 bis 09:08 Uhr in x, x vor Haus Nr. x das mehrspurige Kraftfahrzeug, VW, mit dem polizeilichen Kennzeichen x in einer gebührenpflichtigen Kurzparkzone ohne gültigen Parkschein abgestellt. Sie sind der Verpflichtung zur Entrichtung der Parkgebühr nicht nachgekommen."

 

Der Bw habe dadurch "§§ 2 Abs 1 und 6 Abs 1 lit a Oö. Parkgebührengesetz 1988" und "§§ 1, 2, 3, 5 und 6 Parkgebührenverordnung der Landeshauptstadt Linz 1989" verletzt. Gemäß § 6 Abs 1 lit a) Oö. Parkgebührengesetz iVm §§ 16 und 19 VStG wurde über ihn eine Geld­strafe in Höhe von 30 Euro und für den Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe von 46 Stunden verhängt. Als Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens wurde gemäß § 64 VStG der Betrag von 3 Euro (10 % der Geldstrafe) vorgeschrieben.

 

2.1. Gegen dieses Straferkenntnis, das dem Bw am 21. Dezember 2009 zugestellt wurde, erhob dieser das Rechtsmittel der Berufung, das er am 22. Dezember 2009 und damit rechtzeitig per E-Mail bei der belangten Behörde einbrachte.

 

In der Berufung bringt der Bw vor, dass die Verwertung seiner Lenkerauskunft, wonach er das gegenständliche Kraftfahrzeug zuletzt vor dem in Rede stehenden Zeitpunkt abgestellt habe, unzulässig sei, weil gegen ihn zunächst eine Strafverfügung erlassen und erst danach die Lenkeranfrage an ihn gerichtet wurde, sodass er als Beschuldigter zur Selbstbezichtigung gezwungen worden sei. Zudem handle es sich bei der gegenständlichen Verwaltungsübertretung zweifellos um ein Bagatelldelikt. Diesbezüglich verweist der Bw auf das Erkenntnis des Unabhängigen Verwaltungssenats des Landes Oberösterreich vom 25. Februar 2008, Zl. VwSen-130583/2/Gf/Mu/Se.

 

Der Bw bringt weiters vor, dass er sich, ungeachtet des Umstandes, dass ihm bereits zum Zeitpunkt der Lenkeranfrage bewusst gewesen sei, dass er nicht verpflichtet war, sich selbst zu bezichtigen, dennoch gehalten gesehen habe, bekannt zu geben, dass er selbst das gegenständliche Kraftfahrzeug zuletzt vor dem angeführten Tatzeitpunkt am angeführten Tatort abgestellt habe. Dies deshalb, weil seines Erachtens die Berechtigung der Verweigerung der Beantwortung einer solchen Lenkeranfrage logischerweise voraussetze, dass der Zulassungsbesitzer selbst das Kraftfahrzeug abgestellt hat, zumal ansonsten ein Zwang zur Selbstbezichtigung nicht vorliege. Er wäre daher nicht umhin gekommen, den Umstand, dass er selbst das gegenständlichen Kraftfahrzeug zuletzt vor dem angeführten Tatzeitpunkt am angeführten Tatort abgestellt habe, spätestens zur Rechtfertigung der Verweigerung der Beantwortung der Lenkeranfrage bekannt zu geben. Vor diesem Hintergrund sehe der Bw auch keine Veranlassung für die Darlegung einer Rechtfertigung für die gegenständliche Verwaltungsübertretung. Ein späteres Vorbringen behalte er sich jedoch vor.

 

Zur Strafbemessung merkt der Bw an, dass zu Unrecht eine Berücksichtigung der langen Verfahrensdauer als Strafmilderungsgrund unterblieben sei. Außerdem verfüge er nicht, wie von der belangten Behörde angenommen, über ein Einkommen von monatlich 1.500, Euro, sondern lediglich über Notstandshilfe in der Höhe von 11,27 Euro pro Tag.

 

Schließlich beantragt der Bw in der Hauptsache seiner Berufung Folge zu geben und das gegenständliche Straferkenntnis aufzuheben, hilfsweise die Geldstrafe angemessen zu reduzieren.

 

2.2. Die belangte Behörde hat ihren Verwaltungsstrafakt und die Berufung, ohne von der Möglichkeit einer Berufungsvorentscheidung Gebrauch zu machen, dem Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich mit Schreiben vom 8. Jänner 2010 zur Entscheidung kommentarlos vorgelegt.

 

3. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in die Berufung und den vorgelegten Strafverfahrensakt der belangten Behörde. Aus der Aktenlage ist vom folgenden unbestritten gebliebenen S a c h v e r h a l t auszugehen:

 

Am 7. April 2008 von 08:45 bis 09:08 Uhr war das mehrspurige Kraftfahrzeug der Marke VW mit dem polizeilichen Kennzeichen x in einer gebührenpflichtigen Kurzparkzone in x, x vor dem Haus Nr. x ohne gültigen Parkschein abgestellt. Zulassungsbesitzer und Fahrzeughalter des gegenständlichen Kraftfahrzeugs ist der Bw.

 

Am 7. April 2008 wurde eine Organstrafverfügung wegen Übertretung des Oö. Parkgebührengesetzes verhängt, weil der Verpflichtung zur Entrichtung der Parkgebühr nicht nachgekommen worden ist. Da die Organstrafverfügung nicht bezahlt wurde, hatte die belangte Behörde ohne weitere Erhebungen die Strafverfügung vom 17. Juni 2008, Zl. 933/10-564694, hinterlegt am 24. Juni 2008, gegen den Bw erlassen. Dagegen erhob der Bw mit E-Mail vom 24. Juni 2008 ohne weitere Begründung Einspruch. Die Strafverfügung trat damit außer Kraft und im Strafverfahren gegen den Bw war das ordentliche Ermittlungsverfahren einzuleiten.

 

Mit Schreiben der belangten Behörde vom 24. Juni 2008 wurde der Bw als Zulassungsbesitzer zur Bekanntgabe aufgefordert, innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung bekannt zu geben, wem er das mehrspurige Fahrzeug zuletzt vor dem Tatzeitpunkt (7.4.2008, 08:54 bis 09:08 Uhr) überlassen hatte. Seine Auskunft müsse den Namen und Anschrift der betreffenden Person enthalten. Er mache sich strafbar, wenn er die Auskunft nicht, unrichtig oder nicht innerhalb von zwei Wochen erteile.

 

Mit E-Mail vom 26. Juni 2008 gab der Bw unter Hinweis auf das Auskunftsverlangen vom 24. Juni 2008 Folgendes bekannt:

 

"Entsprechend der Aufforderung gebe ich bekannt, dass ich das gegenständliche KFZ zuletzt vor der angeführten Tatzeit niemandem überlassen hatte.

 

 

Wenn diese Auskunft in einem allfälligen Strafverfahren verbotenerweise als Beweis verwertet wird (vgl. Oö. Verwaltungssenat 25.2.2008, Zl. VwSen-130583/2/Gf/Mu/Se), wird dagegen aus diesem Grund Berufung erhoben werden.

 

 

x"

 

Mit Schreiben vom 28. Juli 2008, zugestellt durch Hinterlegung am 30. Juli 2008, wurde der Bw unter Hinweis auf seine Auskunft, dass er das Fahrzeug vor dem Tatzeitpunkt niemandem überlassen habe, aufgefordert, sich zu der ihm wie im Straferkenntnis zur Last gelegten Verwaltungsübertretung nach dem Oö. Parkgebührengesetz bis zum 2. September 2008 zu rechtfertigen. Dieser Aufforderung ist der Bw nicht nachgekommen.

 

Die belangte Behörde hat dann am 11. September 2008 Frau x, Parkaufsichtsorgan der Überwachungsfirma x, zeugenschaftlich einvernommen. Die Zeugin gab an, dass sie am 7. April 2008 zunächst das gegenständliche Fahrzeug um 08:54 Uhr ohne Parkschein oder Bewohnerparkkarte vorfand und im Mitschreibeheft notierte. Nach weiteren 14 Minuten um 09:08 Uhr hätte sie dann eine Organstrafverfügung verhängt. Eine Ladetätigkeit hätte sie nicht beobachtet. Auch ein Zusammentreffen mit dem Fahrzeuglenker habe nicht stattgefunden.

 

Die belangte Behörde informierte den Bw über diese Beweisaufnahme mit Schreiben vom 18. September 2008, räumte ihm Gelegenheit zur Stellungnahme ein und forderte ihn gleichzeitig auf, seine Einkommens-, Vermögens- und Familienverhältnisse bekannt zu geben, widrigenfalls von einem Monatsnettoeinkommen von 1.500 Euro, keinem Vermögen und keinen Sorgepflichten ausgegangen werde. Der Bw hat darauf nicht reagiert und die belangte Behörde unternahm längere Zeit nichts.

 

Nach mehreren Urgenzen des Bw zum Stand des Verwaltungsstrafverfahrens hat die belangte Behörde schließlich das angefochtene Straferkenntnis vom 17. Dezember 2009 gegen den Bw erlassen. Weitere Beweise sind nicht mehr aufgenommen worden.

 

4. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat erwogen:

 

4.1. Gemäß § 6 Abs 1 lit a) Oö. Parkgebührengesetz in der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung – spätere iSd § 1 Abs 2 VStG günstigere Bestimmungen wurden nicht erlassen – begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde mit einer Geldstrafe bis zu 220 Euro zu bestrafen,

 

wer durch Handlungen oder Unterlassungen die Parkgebühr hinterzieht oder verkürzt bzw. zu hinterziehen oder zu verkürzen versucht.

 

Gemäß § 2 Abs 1 Oö. Parkgebührengesetz ist der Lenker zur Entrichtung der Parkgebühr, welche nach § 4 Abs 2 Oö. Parkgebührengesetz bei Beginn des Abstellens fällig ist, verpflichtet. Die Parkgebührenverordnung der Landeshauptstadt Linz in der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung enthält im Wesentlichen gleichlautende Regelungen.

 

4.2. Gemäß § 2 Abs 2 Oö. Parkgebührengesetz in der zum Zeitpunkt des Auskunftsbegehrens geltenden Fassung vor der Novelle LGBl Nr. 84/2009 ist der Zulassungsbesitzer und jeder, der einer dritten Person die Verwendung eines mehrspurigen Kraftfahrzeuges überlassen hat, verpflichtet, darüber auf Verlangen der Behörde Auskunft zu erteilen, sofern dieses Fahrzeug ohne Entrichtung der erforderlichen Parkgebühr gebührenpflichtig abgestellt war. Die Auskunft ist unverzüglich, im Falle einer schriftlichen Aufforderung binnen zwei Wochen nach Zustellung zu erteilen und muss den Namen und die Anschrift der betreffenden Person enthalten. Wenn eine solche Auskunft ohne entsprechende Aufzeichnungen nicht gegeben werden könnte, sind diese Aufzeichnungen zu führen.

 

Im gegenständlichen Verfahren wurde von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und der Bw als Zulassungsbesitzer mit Schreiben vom 24. Juni 2008 zur Bekanntgabe des Fahrzeuglenkers aufgefordert. Mit E-Mail vom 26. Juni 2008 gab der Bw unter dem Vorbehalt der unzulässigen Verwertung seiner Auskunft bekannt, dass er das gegenständliche Kraftfahrzeug zuletzt vor der angeführten Tatzeit niemandem überlassen hatte.

 

4.3. In seiner Berufung wendet der Bw ein, dass die Verwertung der erteilten Lenkerauskunft, wonach er das gegenständliche Kraftfahrzeug niemandem überlassen habe, nicht rechtmäßig sei, da die Verwertung dem Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten, widerspreche. Dieser Grundsatz sei im vorliegenden Fall vor allem deshalb verletzt, da gegen den Bw bereits eine Strafverfügung erlassen worden war und sich der Bw daher bereits als Beschuldigter zu verantworten hatte.

 

Grundsätzlich ist festzustellen, dass zu den Rechten, die aus Art 6 EMRK abgeleitet werden, auch das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst beschuldigen zu müssen ("nemo tenetur"), zählt. Danach ist es Aufgabe der Strafverfolgungsbehörde, den Beschuldigten zu überführen, ohne hierfür auf Beweismittel zurückzugreifen, die durch Zwang oder Druckmittel gegen den Willen des Beschuldigten erlangt wurden.

 

Das Instrument der Lenkerauskunft nach § 2 Abs 2 Oö. Parkgebührengesetz und nach dem § 103 Abs 2 KFG steht im Spannungsfeld zur Rechtsposition des Beschuldigten nach Art 6 EMRK, ist aber unter bestimmten Voraussetzungen damit vereinbar, solange nicht der Wesensgehalt der Garantie ausgehöhlt wird. Das Recht zu schweigen und sich nicht selbst zu beschuldigen, ist kein absolutes Recht und kann auf Grund von Verhältnismäßigkeiterwägungen eingeschränkt werden. Die Verletzung des Grundsatzes "nemo tenetur se ipsum accusare" ist in der Rechtsprechung des EGMR nach Art eines beweglichen Systems beurteilt worden, wobei Kriterien wie Art und Schwere des Zwangs zur Beweiserlangung, das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Verfolgung der Straftat und Bestrafung des Täters, die Existenz angemessener Verfahrensgarantien (Rechtsschutzeinrichtungen) und die Art der Verwertung des Beweismittels maßgeblich waren (vgl mit Nachw zur EMRK-Judikatur Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008], 367 f, Rz 119; Reiter, Das Recht zu schweigen und sich nicht selbst beschuldigen zu müssen gemäß Art 6 EMRK, RZ 2010, 103 ff).

 

4.4. Die im Zusammenhang mit Art 6 EMRK bestehende verfassungsrechtliche Problematik zur Lenkerauskunft nach § 2 Abs 2 Oö. Parkgebührengesetz hatte der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26. April 1999, Zl 97/17/0334, noch mit dem Formalargument abgetan, dass er im Hinblick auf die derogatorische Kraft der Verfassungsbestimmung des Art II der FAG-Novelle BGBl Nr. 384/1986 keine Bedenken unter dem Gesichtspunkt des verbotenen Zwangs zur Selbstbezichtigung habe. Ob sich Österreich durch die erwähnte Verfassungsbestimmung in Art II des Bundesgesetzes vom 26. Juni 1986, mit dem das Finanzausgleichsgesetz 1985 geändert wurde, konventionswidrig verhält, entziehe sich der Prüfungsbefugnis des Verwaltungsgerichtshofs (so VwGH vom 26.04.1999, Zl. 97/17/0334).

 

Dieser formale Standpunkt erscheint heute aber überholt. Wie die ständige Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zeigt, ist es für seine autonome Auslegung des Art 6 EMRK unbeachtlich, ob in Österreich eine formale Verfassungsbestimmung als lex specialis einen Eingriff in die Grundrechtsgarantie zulässt oder nicht. Die Auslegung der in Österreich im Verfassungsrang stehenden Europäischen Menschenrechtskonvention durch den EGMR ist für Österreich verbindlich und daher wohl auch von der Vollziehung zu beachten, um Verurteilungen Österreichs zu vermeiden. So gesehen muss innerstaatlich zumindest hinsichtlich des Wesensgehalts zentraler Garantien der EMRK von übergeordneten, den Grundprinzipien oder Baugesetzen der Verfassung gleichgestellten Gewährleistungen ausgegangen werden: Der Grundsatz des "nemo tenetur" ist vor diesem Hintergrund (zwar nicht formal, aber materiell betrachtet) als quasi höherrangiges Verfassungsrecht anzusehen. Denn im Fall einer systemischen Nichtbeachtung der EMRK drohen jedem Konventionsstaat gravierende Konsequenzen, wobei die möglichen Sanktionen bis zum Ausschluss aus dem Europarat gehen können (vgl z.B. Meyer-Ladewig, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Handkommentar [2003], 311, Rz 20 zu Art 46 EMRK). Das jüngst ergangene Urteil des EGMR vom 2. September 2010, Beschw Nr. 46344/06, im Fall Rumpf gg. BRD (vgl Newsletter Menschenrechte 5/2010, 275 ff) hat solche Konsequenzen deutlich vor Augen geführt. In diesem sog. "Piloturteilsverfahren" stellte der Gerichtshof auf Grund von zahlreichen Individualbeschwerden fest, dass das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs (Art 13 EMRK) gegen überlange Verfahrensdauer ein strukturelles bzw systemisches Problem infolge von Unzulänglichkeiten in Deutschland sei. Dieser Konventionsstaat habe bisher keine Bereitschaft gezeigt, das schon länger bekannte Problem zeitgerecht zu lösen. Deshalb sei Deutschland nach Art 46 EMRK nunmehr zu verpflichten, unverzüglich, jedenfalls aber binnen Jahresfrist ab Rechtskraft des Urteils einen Rechtsbehelf oder eine Kombination von Rechtsbehelfen in das nationale Recht einzuführen, die nach den Schlussfolgerungen des Urteils auszugestalten sind und den genannten Schlüsselkriterien zu entsprechen haben (vgl Urteil des EGMR vom 2.09.2010, RN 73).

 

Nach Ansicht des erkennenden Mitglieds des Oö. Verwaltungssenats könnte auch Österreich ein solches Vorgehen des EGMR drohen, wenn mit formalen Verfassungsbestimmungen wie dem § 103 Abs 2 KFG oder dem Art II FAG Novelle Nr. 384/1986 systematisch versucht wird, die rechtsstaatlichen Grundsätze der EMRK zu unterlaufen. Die Lösung des Normkonfliktes liegt bei materieller Betrachtung in der Anerkennung eines quasi übergeordneten Rechts der EMRK, das effektiv den Rahmen der Anwendbarkeit von problematischen Verfassungsbestimmungen einschränkt, wenn und soweit diese den in der Judikatur des EGMR entwickelten Wesensgehalt der Grundrechte der EMRK verletzen: Österreich ist in diesem Sinne zu einer konventionskonformen Interpretation verpflichtet.

 

4.5. Mittlerweile gibt es zur Grundrechtsproblematik im Zusammenhang mit Lenkerauskünften eine Judikaturlinie des EGMR, die den Wesensgehalt des Art 6 EMRK konkreter festlegt. Im Fall Weh gg Österreich (vgl MRK 2004/24 in ÖJZ 2004, 853 ff) hatte der EGMR mit Urteil vom 8. April 2004, Beschw Nr. 38544/97, eine Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK nur knapp (4:3 Stimmen) mit der Begründung verneint, dass nach den konkreten Umständen des Falles nur ein entfernter und hypothetischer Zusammenhang zwischen der Verpflichtung des Beschwerdeführers, über den Lenker seines Fahrzeuges Auskunft zu geben, und einem möglichen Strafverfahren gegen ihn bestanden habe. Ohne ausreichend konkrete Verbindung zu einem Strafverfahren sei der Zwang zur Erlangung von Informationen kein Problem. In der Begründung wies der Gerichtshof auf seine Judikatur hin, wonach das Recht, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen, nicht per se die Anwendung von Zwang außerhalb eines Strafverfahrens verbiete.

 

Im Fall Weh wurde zu keiner Zeit ein Strafverfahren wegen Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit gegen den Beschwerdeführer geführt. Dieses Verfahren sei gegen unbekannte Täter geführt worden, als der Beschwerdeführer zur Lenkerauskunft nach § 103 Abs 2 KFG aufgefordert wurde. Somit habe der Fall nicht die Verwendung von unter Zwang erlangten Informationen in einem nachfolgenden Strafverfahren betroffen. Nichts weise darauf hin, dass der Beschwerdeführer "wesentlich berührt" war, sodass er als der Straftat beschuldigt iSd Art 6 Abs 1 EMRK angesehen hätte werden können. Er sollte nur als Zulassungsinhaber Auskunft erteilen, wer sein Fahrzeug gelenkt hatte. Er sei auch nur deshalb nach dem § 103 Abs 2 KFG bestraft worden, weil seine Informationen wegen der fehlenden Adresse des Lenkers unzureichend waren.

 

Diese Begründungslinie setzte der EGMR im Fall Rieg gg Österreich mit Urteil vom 24. März 2005, Beschw Nr. 63207/00 (vgl MRK 2006/7 in ÖJZ 2006, 342), unter Bezugnahme auf den Fall Weh fort und verneinte mit 5:2 Stimmen eine Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK. Wieder ging es um eine Lenkerauskunft nach dem § 103 Abs 2 KFG, die eine Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit einem Strafverfahren wegen Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit belasten hätte können. Abermals war dem Gerichtshof die Feststellung wichtig, dass ein solches Strafverfahren weder zur Zeit der Aufforderung zur Bekanntgabe des Lenkers noch danach gegen die Beschwerdeführerin geführt worden sei. Nichts weise daher darauf hin, dass die Bfin als auskunftspflichtige Zulassungsbesitzerin "wesentlich berührt" und als der Straftat iSd Art 6 Abs 1 EMRK angeklagt anzusehen war. Der Fall unterscheide sich nicht vom Fall Weh.

 

Im Fall Mavromatis gg Österreich (MRK 2006/2 in ÖJZ 2006, 39) wies der EGMR die Beschwerde als offensichtlich unbegründet zurück und verwies dabei auf den Fall Weh. Da gegen die Bfin kein Strafverfahren wegen überhöhter Geschwindigkeit geführt worden war, sei sie nicht "wesentlich berührt" und als einer Straftat angeklagt anzusehen gewesen.

 

Aus den oben dargestellten Entscheidungen des EGMR ist aber nach Ansicht des Oö. Verwaltungssenats als - positiv formulierter - gemeinsamer Tenor abzuleiten, dass die Verwendung von unter Zwang erlangten Informationen gegen den Auskunftspflichtigen in einem anhängigen Strafverfahren unzulässig ist, weil der Betroffene unter diesen Umständen als iSd Art 6 Abs 1 EMRK angeklagt angesehen werden muss und damit "wesentlich berührt" wird.

 

Die Entscheidung Lückhof und Spanner gg. Österreich (vgl U EGMR vom 10.01.2008, Beschw Nr. 58.452/00 und 61.920/00, = Newsletter Menschenrechte 2008/1, 8 f) spricht nicht gegen den dargelegten Tenor, weil sich in diesen Fällen die Frage der Verwertung einer Lenkerauskunft im Strafverfahren wegen einer Geschwindigkeitsübertretung bzw wegen unerlaubten Parkens nicht stellte. Die Beschwerdeführer wurden in beiden Fällen nur wegen Verletzung der Auskunftspflicht bestraft. Der EGMR hat im Fall Spanner nur scheinbar die Auskunft über die Lenkereigenschaft während des anhängigen Strafverfahrens nach dem Wiener Parkometergesetz wegen unerlaubten Parkens zugelassen. Dieses Strafverfahren wurde nämlich zumindest nachträglich eingestellt. Wie der Gerichtshof als Ergebnis im Wesentlichen festhielt, erteilte keiner der Beschwerdeführer die begehrte Auskunft. Es liege daher kein Problem bezüglich des Gebrauchs ihrer Angaben in den zugrundeliegenden Strafverfahren vor. Diese Verfahren wurden nämlich nicht fortgesetzt.

 

4.6. Der Grundsatz der Unbeschränktheit der Beweismittel nach § 46 AVG ermöglicht manchmal auch die Verwertung rechtswidrig erlangter Beweise. Dies gilt aber nicht allgemein, sondern nur mit wesentlichen Einschränkungen. So hat der Verfassungsgerichtshof die Blutabnahme an einem Bewusstlosen zwecks Blutalkoholbestimmung als nach § 5 Abs 6 StVO unzulässig und mit dem Anklageprinzip des Art 90 B-VG in seiner materiellen Bedeutung (Verbot des Zwangs zur Selbstbeschuldigung bzw von medizinischen Eingriffen in den Körper als Beweis gegen sich selbst) unvereinbar angesehen (vgl VfSlg 11923/1988 unter Hinweis auf VfSlg 10976/1986). Schon im Jahr 1979 hatte ein verstärkter Senat des Verwaltungsgerichtshofs (vgl VwSlg 9975 A/1979) ausgesprochen, dass die verfassungsrechtliche Ausnahmebestimmung des § 5 Abs 6 StVO einschränkend zu interpretieren sei und eine zwangsweise Blutabnahme nicht zulasse. Verbotenerweise ohne Verlangen oder Zustimmung des Beschuldigten erlangte Blutproben dürften daher nicht zur Herstellung des Schuldbeweises verwendet werden. Dabei sei auch zu bedenken, dass der Beschuldigte kein den Beweiszielen dienstbares Untersuchungsobjekt sei, sondern die Stellung als Partei gemäß § 32 VStG und Rechtssubjekt im Verwaltungsstrafverfahren habe. Er könne gemäß § 33 Abs 2 VStG zur Beantwortung der an ihn gestellten Fragen nicht gezwungen werden. Im Ergebnis nahm der verstärkte Senat ein Beweisverwertungsverbot an. Erfolgte die Blutabnahme aber nur zum rechtmäßigen Zweck der Heilbehandlung im Krankenhaus oder hinterließ der Lenker Blut am Unfallort, so liege kein verbotener Zwang zur Selbstbeschuldigung vor, wenn das Untersuchungsergebnis in einem Strafverfahren nach § 5 Abs 1 StVO verwertet wird (vgl VwSlg 15594 A/2001).

 

Im Allgemeinen hat der Verwaltungsgerichthof angenommen, dass auf gesetzwidrige Weise gewonnene Beweisergebnisse zur Ermittlung der materiellen Wahrheit unzulässig sind, wenn das Gesetz dies anordnet oder wenn die Verwendung des betreffenden Beweisergebnisses dem Zweck des durch seine Gewinnung verletzten Verbotes widerspräche (vgl VwGH 05.06.1993, Zl. 91/10/0130 = JBl 1994, 196; VwSlg 11540 A/1984).

 

4.7. Die belangte Behörde hat im vorliegenden Fall allein auf Grund der internen "Organmandat-Auskunft" vom 24. Juni 2008, wonach das auf den Bw zugelassene Kraftfahrzeug mit dem Kennzeichen x am 7. April 2008 von 08:54 Uhr bis 09:08 Uhr in einer gebührenpflichtigen Zone in der x ohne Parkschein abgestellt und das Organmandat nicht bezahlt worden war, gegen den Bw die Strafverfügung vom 17. Juni 2008 erlassen und darin (ohne konkrete Anhaltspunkte) behauptet, dass er selbst das Kraftfahrzeug abgestellt und der Verpflichtung zur Entrichtung der Parkgebühr nicht nachgekommen sei. Der Bw erhob dagegen mit E-Mail vom 24. Juni 2008 rechtzeitig Einspruch, ohne dafür eine Begründung zu geben.

 

Daraufhin hat die belangte Strafbehörde den Bw im ordentlichen Ermittlungsverfahren mit Schreiben vom 24. Juni 2008 zur Bekanntgabe des Fahrzeuglenkers gemäß § 2 Abs 2 Oö. Parkgebührengesetz aufgefordert und unter Strafandrohung Auskunft darüber verlangt, wem der Bw das Fahrzeug zuletzt vor dem Tatzeitpunkt überlassen hatte. Der Bw erteilte daraufhin unter Vorbehalt die Auskunft, das Fahrzeug niemandem überlassen zu haben, und erklärte unter Hinweis auf das h. Erkenntnis vom 25. Februar 2008, Zl. VwSen-130583/2/Gf/Mu/Se, dass er bei (verbotener) Verwertung seiner Auskunft im Strafverfahren Berufung erheben werde.

 

Die belangte Behörde hat im anhängigen Strafverfahren gegen den Bw wegen des unerlaubten Parkens ohne Entrichtung der Parkgebühr das Instrument der strafbewehrten Lenkerauskunft als Beweismittel gegen den Bw, der keine Angaben in seinem Einspruch gemacht hatte, eingesetzt. Die nachträglich noch durchgeführte Befragung des Parkaufsichtsorgans hatte keinerlei weitere Aufklärung gebracht. Dieses Organ konnte nämlich über den Lenker des parkenden Fahrzeuges keinerlei Wahrnehmungen machen.

 

In einem vergleichbaren Fall, in dem die belangte Behörde ebenfalls zunächst eine Strafverfügung erlassen hatte und erst im Nachhinein den Beschuldigten zur Bekanntgabe des Fahrzeuglenkers aufforderte, führte der Oö. Verwaltungssenat mit Erkenntnis vom 25. Februar 2008, VwSen-130583/2/Gf/Mu/Se, unter Hinweis auf Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention (2008) Rz 119 und die dort zitierte Rechtsprechung aus, dass der Beschuldigte nicht zur Lenkerauskunft verhalten werden dürfe, um sich dabei unter Zwang selbst beschuldigen zu müssen. Diesen Effekt habe nämlich die Beantwortung einer Lenkeranfrage dadurch, dass der Beschuldigte entweder keinen Dritten benennt, oder explizit angibt, selbst gefahren zu sein.

 

4.8. Nach Ansicht des erkennenden Mitglieds des Oö. Verwaltungssenats verletzt die Vorgangsweise der belangten Behörde den Wesensgehalt des aus Art 6 Abs 1 EMRK abzuleitenden Rechts zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen. Dadurch, dass die Strafbehörde während eines konkret gegen den Bw geführten Strafverfahrens wegen Hinterziehung von Parkgebühren auf das Instrument der Lenkerauskunft zurückgriff, um den Bw zu einer bestimmten Äußerung zu zwingen, hat sie gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz des "nemo tenetur" verstoßen und das Verbot des Zwangs zu Selbstbelastung nach § 33 Abs 2 VStG iVm Art 6 Abs 1 EMRK verletzt. Die Verwendung des dadurch erzwungenen Tatsachengeständnisses des Bw als Schuldbeweis im anhängigen Strafverfahren und die Erlassung eines Straferkenntnisses allein auf dieser Beweisgrundlage widerspricht eindeutig der oben dargestellten Judikatur des EGMR und berührt den Bw in seiner Rechtsposition als Partei des Strafverfahrens wesentlich. Auch die Beweislast im Strafverfahren wird dadurch auf den Bw verlagert. Diese Verwendung der Auskunft widerspricht selbstredend dem Zweck des Verbots zur Selbstbelastung, weshalb in solcher Art gewonnene Beweise auch nach der Judikatur des Verwaltungsgerichthofs zur Ermittlung der materiellen Wahrheit unzulässig erscheinen (dazu oben Punkt 4.6.).

 

Der belangten Behörde ist schließlich auch der jüngst mit Urteil des EGMR vom 18. März 2010, Beschw Nr. 13201/05, entschiedene Fall Krumpholz gg. Österreich (vgl MRK 2010/7 in ÖJZ 2010, 782) entgegen zu halten, in dem der Gerichtshof einstimmig eine Verletzung von Art 6 Abs 1 und Abs 2 EMRK angenommen hatte. Auch in diesem Fall gab es keinen Beweis oder auch nur Hinweis auf die Identität des Fahrers. Dadurch dass der Beschwerdeführer zur Auskunftserteilung (spezifisches Vorbringen über seinen Aufenthalt) verpflichtet wurde, obwohl kein überzeugender Anscheinsbeweis gegen ihn erbracht werden konnte, sah der EGMR die Beweislast von der Anklage auf die Verteidigung verlagert. Ein Ziehen von Rückschlüssen aus einer solchen Situation hätte zumindest eine Befragung des Beschwerdeführers erfordert, um einen direkten Eindruck von seiner Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Der EGMR erachtete das Recht zu schweigen und die Unschuldsvermutung als verletzt.

 

4.9. Im Hinblick auf den relativen Charakter des Rechts, zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen, könnte man noch weitere Verhältnismäßigkeitserwägungen nach den oben angeführten Kriterien (vgl unter Punkt 4.3.) anstellen wollen. Zur Art und dem Ausmaß des Zwangs bei Erlangung des Beweismittels hat der EGMR im Fall Lückhof und Spanner (siehe Punkt 4.5.) klargestellt, dass der Grad des Zwanges auch bei geringen Geldstrafen ausreichend ist, weil im österreichischen Verwaltungsstrafrecht Geldstrafen mit Ersatzfreiheitsstrafen einhergehen und daher unterschiedliche Geldstrafen nicht ausschlaggebend sind. Das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Verfolgung der Straftat und Bestrafung des Täters und die Existenz angemessener Verfahrensgarantien (Rechtsschutzeinrichtungen) sind weitere Gesichtpunkte.

 

Der erkennende Verwaltungssenat ist der Ansicht, dass es beim unerlaubten Parken ohne Entrichtung von Parkgebühren um ein Bagatelldelikt geht, bei dem das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Verfolgung nur gering erscheint. Die Verwertung einer erzwungenen Lenkerauskunft als Schuldbeweis im Strafverfahren widerspricht nicht nur offenkundig dem gemäß Art 6 Abs 1 EMRK gewährleisteten Recht, zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen, sondern steht auch außer Verhältnis zur geringen Bedeutung der verfolgten Bagatellstraftat (vgl bereits VwSen-130583/2/Gf/Mu/Se vom 25.02.2008). Verfahrensgarantien gegen die Verwendung der Lenkerauskunft als Schuldbeweis hat die belangte Behörde nicht eingeräumt. Sie hat vielmehr ohne Bedenken die Auskunft des Bw als Zugeständnis gewertet, dass er zur Tatzeit selbst das Fahrzeug verwendet und in einer gebührenpflichtigen Parkzone ohne Parkschein abgestellt hatte.

 

Wie der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich schon im oben zitierten Erkenntnis um Ausdruck brachte, hätte die belangte Behörde noch vor Einleitung eines konkreten Strafverfahrens ermitteln müssen, wer das Kraftfahrzeug vor dem Abstellen gelenkt hat. Solange noch kein Strafverfahren gegen eine bestimmte Person geführt wird, besteht nach der Judikatur des EGMR (näher unter Punkt 4.5.) nur ein entfernter und hypothetischer Zusammenhang zwischen der Verpflichtung des Zulassungsbesitzers, über den Lenker seines Fahrzeuges Auskunft zu geben, und einem möglichen Strafverfahren gegen ihn. In diesem Stadium gilt der Auskunftspflichtige noch nicht als angeklagt iSd Art 6 EMRK und damit "wesentlich berührt". Deswegen steht der Grundsatz des "nemo tenetur" der Auskunftspflicht zu dieser Zeit noch nicht entgegen (vgl auch mwN Grabenwarter, Europäische Menschrechtskonvention, 368, Rz 119).

 

Nach Einleitung des Strafverfahrens darf kein Zwang zur Selbstbeschuldigung mehr ausgeübt werden und es dürfen rechtswidrig entgegen dem Verbot des § 32 Abs 2 AVG iVm Art 6 Abs 1 EMRK gewonnene Beweisergebnisse nicht verwertet werden. Denn die Verwendung des betreffenden Beweisergebnisses würde dem Zweck des durch seine Gewinnung verletzten Verbotes widersprechen (vgl dazu VwGH 05.06.1993, Zl. 91/10/0130 = JBl 1994, 196; VwSlg 11540 A/1984).

 

5. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die unter Androhung einer Verwaltungsstrafe erzwungene Lenkerauskunft während des gegen den Bw geführten Strafverfahrens hinsichtlich des der Lenkerauskunft zugrunde liegenden Delikts und die Verwertung des Ergebnisses der Lenkerauskunft als Schuldbeweis in diesem Strafverfahren unzulässig waren, weil mit Art 6 Abs 1 und Abs 2 EMRK unvereinbar. Durch diese Vorgangsweise der belangten Behörde wurde nicht nur verbotener Zwang zur Selbstbelastung ausgeübt, sondern auch entgegen der Unschuldsvermutung die Beweislast auf den Bw verlagert, zumal kein Anscheinsbeweis für die Lenkereigenschaft des Bw vorlag.

 

Abgesehen davon wird man im gegenständlichen Fall auch den Beweiswert der vom Bw ausdrücklich unter dem Vorbehalt der Unverwertbarkeit erteilten Lenkerauskunft anzweifeln müssen, die er offenkundig nur zur Vermeidung einer Strafe wegen Nichterteilung erstattete.

 

Im Ergebnis war daher der Berufung Folge zu geben und das Strafverfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 1 VStG mangels eines gesetzlichen Schuldbeweises iSd Art 6 EMRK einzustellen. Bei diesem Verfahrensergebnis entfiel gemäß § 66 Abs 1 VStG auch die Verpflichtung zur Leistung von Beiträgen zu den Kosten des Strafverfahrens.

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

Hinweis:

Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einer bevollmächtigten Rechtsanwältin oder einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingebracht werden. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

 

 

D r. W e i ß

 

 

 


 

 

Rechtssatz zu VwSen-130629 vom 15. Dezember 2010

 

Art 6 Abs 1 EMRK und formale Verfassungsbestimmungen

 

Das aus Art 6 Abs 1 EMRK abgeleitete Recht, zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen ("nemo tenetur"-Grundsatz), darf in seinem Wesensgehalt nicht durch formale Verfassungsbestimmungen wie § 103 Abs 2 KFG oder Art II FAG Novelle BGBl Nr. 384/1986 systematisch unterlaufen werden, weil dies - wie das jüngste sog "Piloturteilsverfahren" Rumpf gg BRD (U EGMR v 2.09.2010, BeschwNr. 46344/06) gezeigt hat - zu schwerwiegenden Konsequenzen für einen Konventionsstaat mit Auftrag zur entsprechenden Rechtsanpassung längstens binnen Jahresfrist durch den EGMR auf Grundlage des Art 46 EMRK führen kann. Die Lösung des Normkonfliktes kann nur in der effektiven Anerkennung eines quasi übergeordneten Auslegungsmaßstabs aus dem Recht der EMRK liegen, mit dem problematische Verfassungsbestimmungen in materieller Hinsicht einschränkend verstanden werden.

 

Grundtenor des EGMR in Lenkerauskunftsfällen

 

Aus der Judikatur des EGMR in österreichischen Lenkerauskunftsfällen ist als positiver Tenor abzuleiten, dass die Verwendung von unter Strafzwang erlangten Informationen in einem anhängigen Strafverfahren gegen den Auskunftspflichtigen unzulässig ist, weil dieser unter solchen Umstanden als angeklagt iSd Art 6 Abs 1 EMRK anzusehen und damit "wesentlich berührt" ist. Solange noch kein Strafverfahren gegen eine bestimmte Person geführt wird, kann der Zulassungsbesitzer im Wege des Instruments der Lenkeranfrage zur Auskunft verhalten werden, weil in diesem Stadium nur ein hypothetischer Zusammenhang zu einem Strafverfahren besteht und er noch nicht als angeklagt gilt.

 

Art 6 Abs 1 und 2 EMRK und § 2 Abs 2 Oö. Parkgebührengesetz

 

Die Verwendung eines mittels strafbewehrter Anfrage nach § 2 Abs 2 Oö. Parkgebührengesetz erzwungenen Tatsachengeständnisses als Schuldbeweis im anhängigen Strafverfahren wegen Parkgebührenhinterziehung widerspricht dem Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung nach Art 6 Abs 1 EMRK iVm § 33 Abs 2 VStG. Die Erlassung eines Straferkenntnisses allein auf dieser Beweisgrundlage verlagert zudem die Beweislast entgegen der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 EMRK auf den Beschuldigten. Ein solche Vorgangsweise steht insbesondere im Fall einer Bagatellstraftat wie dem unerlaubten Parken ohne Parkschein außer Verhältnis zum Gewicht des öffentlichen Verfolgungsinteresses (vgl schon VwSen-130583/2/Gf/Mu/Se vom 25.02.2008).

 

§ 46 AVG

 

Trotz Unbeschränktheit der Beweismittel dürfen rechtswidrig erlangte Beweisergebnisse nicht verwendet werden, wenn dies das Gesetz anordnet oder dem Zweck des durch seine Gewinnung verletzten Verbotes widerspräche (vgl VwGH 05.06.1993, Zl. 91/10/0130 = JBl 1994, 196; VwSlg 11540 A/1984).

 

 

 

 

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