Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-231262/2/Gf/Mu

Linz, 27.06.2011

 

 

E R K E N N T N I S

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich erkennt durch sein Mit­glied Dr. Grof über die Berufung des x gegen das aus Anlass einer Übertretung des Sicherheitspolizeigesetzes erlassene Straferkenntnis des Bezirkshauptmannes von Braunau vom 21. Oktober 2010, Zl. Sich96-4874-2010, zu Recht:

I. Der Berufung wird stattgegeben, das angefochtene Straferkenntnis aufgehoben und das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt.

II. Der Berufungswerber hat weder einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vor der belangten Behörde noch einen Kostenbeitrag für das Verfahren vor dem Oö. Verwaltungssenat zu leisten.

Rechtsgrundlage:

§ 24 VStG i.V.m. § 66 Abs. 4 AVG; § 45 Abs. 1 Z. 3 VStG; § 66 Abs. 1 VStG.

Entscheidungsgründe:

 

 

1.1. Mit Straferkenntnis des Bezirkshauptmannes von Braunau vom 21. Oktober 2010, Zl. Sich96-4874-2010, wurde über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe in Höhe von 80 Euro (Ersatzfreiheitsstrafe: 52 Stunden; Verfahrenskostenbeitrag: 8 Euro) verhängt, weil er (am 19. Mai 2010) in einem öffentlichen Lokal in Mauerkirchen zwei Kellner lautstark beschimpft und dadurch in Furcht und
Unruhe versetzt habe. Dadurch habe er eine Übertretung des § 81 Abs. 1 des
Sicherheitspolizeigesetzes, BGBl.Nr. 566/1991, zuletzt geändert durch BGBl.Nr. I 133/2009 (im Folgenden: SPG), begangen, weshalb er nach dieser Bestimmung zu bestrafen gewesen sei.

 

Begründend wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass der dem Rechtsmittelwerber angelastete Sachverhalt auf Grund entsprechender Wahrnehmungen von Zeugen sowie von einschreitenden Sicherheitsorganen als erwiesen anzu­sehen sei.

 

Im Zuge der Strafbemessung seien seine Einkommens-, Vermögens- und
Familienverhältnisse mangels entsprechender Mitwirkung von Amts wegen zu schätzen gewesen.

 

1.2. Gegen dieses ihm am 19. Jänner 2011 zugestellte Straferkenntnis richtet sich die vorliegende, noch am selben Tag per e-mail eingebrachte Berufung.

 

Darin bringt der Rechtsmittelwerber vor, dass die Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis ein gegen ihn in derselben Sache wegen einer Verletzung des § 107 des Strafgesetzbuches geführtes Ermittlungsverfahren bereits am 20. Juli 2010 eingestellt habe. Außerdem treffe es nicht zu, dass er die im Spruch des angefochtenen Straferkenntnisses angeführten Wortfolgen gebraucht habe.

 

Daher wird – erschließbar – die Aufhebung des angefochtenen Straferkenntnisses und die Einstellung des Strafverfahrens beantragt.

2.1. Der Oö. Verwaltungssenat hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Akt der Bezirkshauptmannschaft Braunau zu Zl. Sich96-4874-2010; da sich
bereits aus diesem der entscheidungswesentliche Sachverhalt klären ließ und die Verfahrensparteien einen entsprechenden Antrag nicht gestellt haben, konnte im Übrigen gemäß § 51e VStG von der Durchführung einer öffentlichen Verhandlung abgesehen werden.

2.2. Nach § 51c VStG hatte der Oö. Verwaltungssenat im gegenständlichen Fall – weil hier eine den Betrag von 2.000 Euro übersteigende Geldstrafe nicht verhängt wurde – nicht durch eine Kammer, sondern durch ein Einzelmitglied zu entscheiden.

3. Über die vorliegende Berufung hat der Oö. Verwaltungssenat erwogen:

3.1. Gemäß § 107 Abs. 1 des Strafgesetzbuches, BGBl.Nr. 60/1974, in der hier maßgeblichen Fassung BGBl.Nr. I 58/2010 (im Folgenden: StGB), begeht derjenige, der einen anderen gefährlich bedroht, um ihn in Furcht und Unruhe zu versetzen, eine gerichtlich strafbare Handlung und ist hierfür mit einer Freiheits­strafe bis zu einem Jahr zu bestrafen.

 

Nach § 81 Abs. 1 SPG begeht derjenige eine Verwaltungsübertretung und ist hierfür mit einer Geldstrafe bis zu 218 Euro zu bestrafen, der die öffentliche Ordnung durch ein besonders rücksichtsloses Verhalten ungerechtfertigt stört.

 

3.2. Vor diesem Hintergrund erhebt sich im Hinblick darauf, dass die Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis dem Rechtsmittelwerber bereits mit Schreiben vom 20. Juli 2010, Zl. 4-St-130/10w-1, mitgeteilt hat, dass das gegen ihn auf Grund der Anzeige der PI Mauerkirchen vom 9. Juni 2010, Zl. B6/8919/2010, wegen des Verdachtes einer Übertretung (u.a.) des § 107 StGB durchgeführte Ermittlungsverfahren eingestellt wird, a priori die Frage, ob die belangte Behörde im gegenständlichen Fall (noch) dazu berechtigt war, über diesen eine Verwaltungsstrafe zu verhängen, weil beiden Verfahren ein und dasselbe tatsächliche
Handeln des Beschwerdeführers (Bedrohung von Bediensteten eines Lokales in Mauerkirchen am 19. Mai 2010 gegen 20:45 Uhr) zu Grunde liegt.

 

3.2.1. Im sog. "Zolotukhin"-Urteil[1] hat der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) seine bisher bereits mehrfach modifizierte Judikatur
zu dem in Art. 4 Abs. 1 des 7.ZPMRK normierten Doppelbestrafungs- bzw. ‑verfolgungsverbot authentisch "harmonisiert" bzw. wie er dies selbst ausdrückt: "The Court is now called upon to provide a harmonised interpretation of the notion of the 'same offence' – the idem element of the non bis in idem
principle – for the purposes of Article 4 of Protocol No. 7"
[2]. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dieses Verbot in mehreren Internationalen Dokumenten jeweils im Wege unterschiedlicher Begriffe ausgedrückt wird[3] und dass gerade darauf gestützt sowohl der Europäische Gerichtshof der EU (EuGH) als auch der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte davon ausgegangen sind, dass diese Differenzierungen ein entscheidendes Argument für die Bevorzugung eines solchen Ansatzes bilden, der strikt auf die Identität des materiellen Geschehens abstellt und dem gegenüber die (formelle) rechtliche Qualifikation als irrelevant ansieht – was im Ergebnis einen Täter insoweit begünstigt, als dieser nach einer Verurteilung bzw. einem Freispruch nicht mehr befürchten muss, wegen derselben Tat noch einmal verfolgt zu werden –, geht nunmehr auch der EGMR im Interesse einer weitest möglichen Grundrechtseffektivität davon aus, dass Art. 4 Abs. 1 des 7.ZPMRK so verstanden werden muss, dass eine Verfolgung oder ein Strafverfahren wegen einer zweiten "strafbaren Handlung" insoweit ausgeschlossen ist, als sich diese auf "denselben Sachverhalt" ("identical facts") oder auf einen "substantiell gleichen Sachverhalt" ("facts which are substantially the same") gründet[4].

 

Die bisherige Rechtsprechung des EGMR, die ursprünglich auf "dasselbe Verhalten" bzw. – mehr subjektiv orientiert – auf einen "einheitlichen Beweggrund" ("same conduct" – Fall Gradinger[5]), dann auf  einen Einzelakt, der mehrere ideal konkurrierende Tatbestände erfüllt (Fall Oliveira[6]) und schließlich auf einen Einzelakt, der mehrere sich allenfalls essentiell überschneidende Tatbestände verwirklicht ("essential elements" – Fall "Fischer"[7]), abstellte, gilt also nunmehr als dahin modifiziert bzw. konkretisiert, dass es für das Hindernis des Doppelverfolgungs- bzw. –bestrafungsverbotes ausschließlich auf einen "(völlig oder zumindest substantiell) identischen Sachverhalt[8]" ("identical or substantially the same facts") ankommt.

 

Davon ausgehend hat der EGMR im Fall "Zolotukhin" nicht etwa deshalb eine Verletzung des Art. 4 Abs. 1 des 7.ZPMRK festgestellt, weil der Beschwerdeführer gesondert wegen nahezu identischer Delikte ("Minderschwere Ordnungsstörung" – "gravierende Ordnungsstörung") verurteilt wurde, sondern ausschließlich deshalb, weil im nachfolgenden Verfahren jene zentralen Sachverhaltsaspekte, die bereits die Grundlage für die Erstverurteilung bildeten (konkret: Beschimpfung von zwei Beamten kurz nach der Ankunft auf einer Polizeistation), auch der neuerlichen Verurteilung zu Grunde gelegt wurden: Denn beide Sachverhalte
unterschieden sich nur in Bezug auf ein zusätzliches Element (konkret: Gewaltausübung), das nicht auch schon Gegenstand des ersten Verfahrens war, sodass der nachfolgende Prozess jedenfalls sämtliche faktischen Aspekte des ersten (mit‑)umfasste, weshalb aus dem Blickwinkel des Art. 4 des 7.ZPMRK beide strafbaren Handlungen ("offences") als substantiell gleich ("substantially the same") zu qualifizieren[9] waren[10].    

 

3.2.2. Mit Erkenntnis vom 16. Dezember 2010, B 343/10, hatte der Verfassungsgerichtshof zwar eine Beschwerde, mit der der Rechtsmittelwerber deshalb eine Verletzung des Verbotes des Art. 4 Abs. 1 des 7.ZPMRK behauptete, weil er in ein und derselben Sache (gerichtlich) wegen des Vergehens der organisierten Schwarzarbeit (§ 153e StGB) und (verwaltungsbehördlich) wegen einer Übertretung des Ausländerbeschäftigungsgesetzes (AuslBG) bestraft wurde, noch abgewiesen.

 

3.2.3. Entscheidend ist aber aus heutiger Sicht die Frage, wie ein Sachverhalt wie jener, der dieser VfGH-Entscheidung zu Grunde lag, zu beurteilen ist, wenn man an diesen ungeachtet verfahrensrechtlicher Besonderheiten jene Kriterien anlegt, die der EGMR für die Auslegung des in Art. 4 Abs. 1 des 7. ZPMRK
normierten Doppelbestrafungsverbotes bereits in mehreren Folgeentscheidungen (vgl. EGMR vom 16. Juni 2009, 13079, vom 25. Juni 2009, 55759/07, und vom 14. Jänner 2010, 2376/03, und dazu jeweils näher A. Grof, Ne bis in idem – das "Zolotukhin"-Urteil des EGMR, Spektrum der Rechtswissenschaften 2011, S. 4 ff, insbes. FN 26 ff) als nunmehr pro futuro maßgeblich festgestellt hat. Denn danach kommt es jetzt auf die rechtliche Qualifikation, auf den Schutzzweck der Normen o.Ä. nicht mehr an, sondern nur mehr darauf, ob den beiden Verfahren ein "identischer" oder zumindest "substantiell identischer" Sachverhalt zu Grunde liegt (sodass – und insofern müsste die
unter 3.2.2. zitierte Passage des VfGH-Erkenntnisses nunmehr in ihr Gegenteil verkehrt werden – die Verfolgung wegen ein und desselben tatsächlichen Verhaltens nach zwei verschiedenen Straftatbeständen grundsätzlich auch dann nicht zulässig ist, wenn diese sich in ihren wesentlichen Elementen unterscheiden).

 

3.2.4. Die in § 85 SPG normierte Subsidiaritätsklausel erhält somit nunmehr im Lichte des "Zolotukhin"-Urteils, dem zufolge es nicht mehr auf den gesetzlichen Strafzweck, sondern auf den Sachverhalt ankommt, aus rechtssystematischer Sicht eine neue Bedeutung, nämlich dahin, dass eine Bestrafung nach § 81 Abs. 1 SPG schon von vornherein ausscheidet, wenn ein und dasselbe Verhalten eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung darstellt und deretwegen auch bereits de facto eine Verfolgung stattgefunden hat.

 

Da das dem Rechtsmittelwerber hier angelastete faktische Verhalten auch unter § 107 Abs. 1 StGB subsumierbar ist und ein entsprechendes Verfahren bereits durchgeführt und von der Staatsanwaltschaft gemäß § 190 Z. 2 StPO – wenngleich (rechtskräftig) negativ – abgeschlossen wurde (vgl. oben, 3.2.), ist sohin gemäß Art. 4 des 7.ZPMRK ein zusätzliches verwaltungsbehördliches Strafverfahren aus den zuvor genannten Gründen gehindert.

 

Im Ergebnis erweist sich daher die Bestrafung des Beschwerdeführers nach § 81 Abs. 1 SPG im gegenständlichen Fall schon aufgrund dieses Prozesshindernisses als a priori unzulässig.

 

3.3. Der gegenständlichen Berufung war daher gemäß § 24 VStG i.V.m. § 66 Abs. 4 AVG stattzugeben, das angefochtene Straferkenntnis aufzuheben und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z. 3 VStG einzustellen.

4. Bei diesem Verfahrensergebnis war dem Beschwerdeführer nach § 66 Abs. 1 VStG weder ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vor der belangten Behörde noch ein Kostenbeitrag für das Verfahren vor dem Oö. Verwaltungssenat vorzuschreiben.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

Hinweis:

Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss - von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen - jeweils von einem Rechtsanwalt unterschrieben sein. Für jede dieser Beschwerden ist eine Gebühr von 220 Euro zu entrichten.

Dr.  G r o f

 

VwSen-231262/2/Gf/Mu vom 27. Juni 2011

Erkenntnis

 

7. ZPEMRK Art4;

StGB §107 Abs1;

SPG §81 Abs1;

SPG §85

 

Nach dem "Zolotukhin"-Urteil des EGMR (vom 10.2.2009, 14939/03) ist nunmehr die Verfolgung wegen ein und desselben tatsächlichen Verhaltens nach zwei verschiedenen Straftatbeständen grundsätzlich auch dann nicht zulässig, wenn diese sich in ihren wesentlichen Elementen unterscheiden. Davon ausgehend erhalten auch die gesetzlichen Subsidiaritätsklauseln – wie § 85 SPG – aus rechtssystematischer Sicht eine neue Bedeutung, nämlich dahin, dass zB eine Bestrafung nach § 81 SPG schon von vornherein ausscheidet, wenn ein und dasselbe Verhalten eine auch mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung darstellt: In einem derartigen Fall ist eine kumulative Bestrafung wegen unechter (scheinbarer) Idealkonkurrenz (bzw Gesetzeskonkurrenz; zu den Begriffen vgl Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts, 6. Auflage, Wien 2004, 1377 f) a priori unzulässig, nachdem die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wegen einer Übertretung des § 107 Abs1 StGB bereits gemäß § 190 Z2 StPO eingestellt hat.

 



[1] Vgl. EGMR vom 10.2.2009, 14939/03 (= NLMR 2009, 37 ff [mit tlw. ungenauer Übersetzung]).

[2] Vgl. FN 1, RN 78 (Hervorhebungen im Original).

[3] Art. 4 des 7.ZPMRK, Art. 14 Abs. 7 des UN-Pakts über die bürgerlichen und politischen Rechte sowie Art. 50 der EU-Grundrechtecharta verwenden den Begriff "(same) offence" ([dieselbe] strafbare Handlung); die Amerikanische Menschenrechtskonvention spricht von "same cause" (dieselbe Strafsache [derselbe Fall]); das Schengener Durchführungsübereinkommen verbietet eine Verfolgung wegen "same acts" (derselben Taten); und das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes verwendet den Ausdruck "(same) conduct" ([dasselbe] Verhalten).

[4] Vgl. FN 1, RN 82.

[5] Vgl. EGMR vom 23.10.1995, 15963/90, wobei der authentische Begriff "conduct" eben auch durch subjektive Elemente, die in Richtung "Motivation des Täters" zielen, geprägt ist (vgl. Dietl – Lorenz, Dictionary of Legal, Commercial and Political Terms5, München 1990, 153).

[6] Vgl. EGMR vom 30.7.1998, 25711/94.

[7] Vgl EGMR vom 26.4.1995, 16922/90.

[8] So der deutsche, dem authentischen Begriff "facts" entsprechende terminus technicus (vgl. Dietl – Lorenz [FN 5], 311) .

[9] Vgl. FN 1, RN 97.

[10] Ob das zweite Verfahren dann keinen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 des 7.ZPMRK dargestellt hätte, wenn es lediglich wegen der Gewaltausübung durchgeführt worden wäre, hat der EGMR offen gelassen; dies dürfte aber wohl deshalb zu verneinen sein, weil ansonsten das vom EGMR eingebrachte Zusatzkriterium "substantially the same" entbehrlich gewesen wäre: Weil es sich gesamthaft betrachtet eben um ein und denselben Sachverhalt handelte, wäre sohin auch ein nachfolgendes Strafverfahren bloß wegen Gewaltausübung durch das Doppelverfolgungs- bzw. –bestrafungsverbot gehindert gewesen. 

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