Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-730076/2/SR/ER

Linz, 28.11.2011

E R K E N N T N I S

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Christian Stierschneider über die Berufung des X, geb. X, StA der Türkei, vertreten durch X, Rechtsanwalt in X, gegen den Bescheid des Polizeidirektors der Landeshauptstadt Linz vom 14. Juli 2010, AZ.: 1045480/FRB, betreffend eine Ausweisung des Berufungswerbers nach dem Fremdenpolizeigesetz, zu Recht erkannt:

 

             I.      Der Berufung wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos aufgehoben.

 

          II.      Eine Rückkehrentscheidung ist auf Dauer unzulässig.

 

 

Rechtsgrundlage:

§ 66 Abs. 4 iVm. § 67a Abs. 1 Z 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG

 

 

Entscheidungsgründe:

 

 

1. Mit Bescheid des Polizeidirektors der Landeshauptstadt Linz vom 14. Juli 2010, AZ.: 1045480/FRB, wurde gegen den Berufungswerber (im Folgenden: Bw) auf Basis der §§ 31 Abs. 1 und 1a, 53 Abs. 1 in Verbindung mit § 66 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 – FPG in der zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Fassung, die Ausweisung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich angeordnet.

 

Neben der Wiedergabe der anzuwendenden Rechtsvorschriften führt die belangte Behörde zum Sachverhalt aus, dass der Bw, ein Staatsangehöriger der Türkei, erstmalig am 23. Februar 2003 illegal über unbekannt nach Österreich eingereist sei und am 24. Februar 2003 einen Asylantrag gestellt habe, der mit Bescheid vom 3. Mai 2008 abgewiesen worden sei. Die Behandlung seiner dagegen eingebrachten Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof sei mit Beschluss vom 24. März 2010 abgelehnt worden.

 

Dem Bw sei am 19. April 2010 die beabsichtigte Ausweisung mitgeteilt worden und er sei aufgefordert worden, dazu binnen zwei Wochen Stellung zu nehmen und seine Privat- und Familienverhältnisse darzulegen.

 

Daraufhin habe der Bw durch seinen Rechtsvertreter angegeben, einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 44 Abs. 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG in der damals geltenden Fassung gestellt zu haben, unbescholten zu sein, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen, über ein eigenes Einkommen zu verfügen und dem österreichischen Staat finanziell nicht zur Last zu fallen. Darüber hinaus sei er vollständig integriert, verfüge über einen Wohnsitz, habe die Deutschprüfung auf dem Niveau A2 positiv abgelegt und habe in Österreich seinen Lebensmittelpunkt gefunden. Diese Angaben habe er durch mehrere Unterlagen untermauert.

 

In ihrer rechtlichen Beurteilung kommt die belangte Behörde zum Ergebnis, dass die Ausweisung einen nicht unerheblichen Eingriff in das Privatleben des Bw bedeute, der allerdings dadurch zu relativieren sei, dass dieser Aufenthalt auf Rechtsgrundlage eines offensichtlich unbegründeten Asylantrags beruhe.

 

Das Privat- und Berufsleben sowie die Integration des Bw seien aber während eines Zeitraums entstanden, in dem sich der Bw seines unsicheren Aufenthaltstatus bewusst sein hätte müssen. Er hätte die erstinstanzliche negative Asylentscheidung vom 3. März 2004 als eindeutiges Indiz für seinen unsicheren Aufenthaltstatus erkennen müssen.

 

Ferner zählt die belangte Behörde mehrere verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen auf. Daraus schließt die belangte Behörde auf eine gewisse Gleichgültigkeit den österreichischen Verwaltungsgesetzen gegenüber und folgert daraus, dass diese Vormerkungen im geringen Maß gegen eine gelungene Integration des Bw sprächen, zumal er diese in Kenntnis seines unsicheren Aufenthaltsstatus begangen habe.

 

Der Bw sei verheiratet, habe keine Kinder und keine weiteren familiären Bindungen an Österreich; von einem Eingriff in sein Familienleben könne nicht ausgegangen werden, da auch gegen seine Gattin eine Ausweisung verfügt werde.

 

Der Bw sei mit etwa 36 Jahren nach Österreich gekommen, habe in der Türkei den überwiegenden Teil seines bisherigen Lebens verbracht, dort seine Ausbildung und den Militärdienst absolviert und mehrere Jahre dort gearbeitet.

 

Unter Abwägung der o.g. persönlichen Situation des Bw mit den öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen stellt die belangte Behörde fest, dass die Ausweisung zur Erreichung der in Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten und fremdenrechtlich zulässig sei. Die persönlichen Interessen des Bw hätten gegenüber den öffentlichen Interessen im vorliegenden Fall in den Hintergrund zu treten.

 

2. Gegen diesen Bescheid erhob der Bw, vertreten durch seinen Rechtsanwalt, rechtzeitig Berufung mit Schriftsatz vom 19. Juli 2010. Darin werden die Anträge gestellt, den Ausweisungsbescheid zu beheben; oder den Bescheid aufzuheben und zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an die Erstinstanz zurück zu verweisen; und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen und durchzuführen.

 

Der Bw bringt in seiner Berufung vor, dass er vollständig in Österreich integriert sei, mit seiner Frau an der ausgewiesenen Wohnadresse wohne und beide Ehepartner einer geregelten Beschäftigung nachgingen und sozialversichert seien. Der Bw habe die Deutschprüfung auf Niveau A2 abgelegt und falle dem Staat nicht zur Last. Er und seine Frau seien eine Vorzeigefamilie, die österreichische Gesellschaft profitiere durch die versicherungs- und abgabenpflichtige Tätigkeit des Bw von seinem Aufenthalt im Bundesgebiet. Er erfülle außerdem sämtliche Voraussetzungen zur Erteilung einer humanitären Aufenthaltsbewilligung, lediglich ein Reisepass stünde noch aus.

 

In der Türkei verfüge der Bw weder über Wohnsitz noch Kontakte, bei einer Außerlandesbringung würde er seine soziale Existenz verlieren. Es bestünden keine Gründe, die einen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Bw gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK rechtfertigen würden.

 

3. Die belangte Behörde legte zunächst den in Rede stehenden Verwaltungsakt der Sicherheitsdirektion Oberösterreich vor.

 

Mit 1. Juli 2011 trat das Fremdenrechtsänderungsgesetz, BGBl. I Nr. 38/2011 in wesentlichen Teilen in Kraft. Aus § 9 Abs. 1a FPG in der nunmehr geltenden Fassung ergibt sich, dass der Unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über die Berufung zuständig ist, weshalb der in Rede stehende Verwaltungsakt von der Sicherheitsdirektion Oberösterreich – nach Inkrafttreten der Novelle am 1. Juli 2011 – dem Unabhängigen Verwaltungssenat übermittelt wurde.

 

3.1. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde.

 

3.2. Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit Berufung angefochtene Bescheid aufzuheben ist (§ 67d Abs. 2 Z. 1 AVG).

 

Der Oö. Verwaltungssenat geht bei seiner Entscheidung von dem unter den Punkten 1. und 2. dieses Erkenntnisses dargestellten unbestrittenen Sachverhalt aus.

Darüber hinaus stellt der Oö. Verwaltungssenat fest, dass vier der sechs von der belangten Behörde vorgebrachten Verwaltungsübertretungen gemäß § 55 Abs. 1 VStG mittlerweile getilgt sind.

 

3.3. Der Unabhängige Verwaltungssenat ist zur Entscheidung durch eines seiner Mitglieder berufen (vgl. § 67a Abs. 1 Z 1 AVG).

 

4. In der Sache hat der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich erwogen:

 

4.1.1. Gemäß § 125 Abs. 14 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 erlassene Ausweisungen gemäß § 53 als Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter, mit der Maßgabe, dass ein Einreiseverbot gemäß § 53 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 damit nicht verbunden ist.

 

4.1.2. Im vorliegenden Fall wurde die Ausweisung auf Basis des § 53 FPG (in der Fassung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011) erlassen, weshalb diese Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne des § 52 FPG in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 anzusehen und zu beurteilen ist.

 

4.2.1. Gemäß § 52 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, ist gegen einen Drittstaatsangehörigen, sofern nicht anderes bestimmt ist, mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die Rückkehrentscheidung wird mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Berufung gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 66 Abs. 4 AVG auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

 

4.2.2. Im vorliegenden Fall ist auch vom Bw selbst unbestritten, dass er über keinerlei Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt und somit grundsätzlich unrechtmäßig aufhältig ist.

 

Allerdings ist bei der Beurteilung der Rückkehrentscheidung sowohl auf Art. 8 EMRK als auch auf § 61 FPG Bedacht zu nehmen.

 

4.3. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist allerdings ein Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts gemäß Abs. 1 (nur) statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Nach § 61 Abs. 1 FPG ist, sofern durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 2 FPG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

1.         die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der       bisherige         Aufenthalt des Fremden rechtmäßig war;

2.         das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3.         die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4.         der Grad der Integration;

5.         die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6.         die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7.         Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des     Asyl-   Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8.         die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem            Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren   Aufenthaltstatus bewusst waren;

9.         die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden       zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 3 FPG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein aufgrund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder 51ff. NAG) verfügen, unzulässig wäre.

 

Gemäß § 125 Abs. 20 FPG, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes, BGBl. I Nr. 38/2011 vorgenommene Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 66 als Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 61 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter.

 

4.4. Im Sinne der zitierten Normen ist eine Interessenabwägung – basierend auf einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung – vorzunehmen.

 

Gestützt auf die ständige Rechtsprechung der Höchstgerichte ist es grundsätzlich zulässig und erforderlich, Maßnahmen zu ergreifen, um den unrechtmäßigen Aufenthalt einer Person zu beenden, da ein solcher rechtswidriger Status fraglos dazu geeignet ist, die öffentliche Ordnung eines Staates massiv zu beeinträchtigen. Daraus folgt, dass das diesbezügliche öffentliche Interesse hoch anzusetzen ist und eine Rückkehrentscheidung grundsätzlich ein nicht inadäquates Mittel darstellt, um einen rechtskonformen Zustand wiederherzustellen. Dies gilt jedoch nur insofern, als die privaten bzw. familiären Interessen im jeweils konkreten Einzelfall nicht als höherrangig anzusehen sind.

 

4.4.1. Der belangten Behörde folgend ist aufgrund der beabsichtigten Ausweisung beider Ehepartner im Wesentlichen eine Interessenabwägung gemäß § 61 Abs. 2 FPG hinsichtlich des Privatlebens des Bw vorzunehmen, wobei insbesondere auf seine berufliche und soziale Integration, das Asylverfahren und die lange Aufenthaltsdauer Bedacht zu nehmen ist.

In Anbetracht seines beinahe neun Jahre währenden Aufenthaltes im Bundesgebiet ist dem Bw eine der Dauer seines Aufenthaltes entsprechende Integration zuzugestehen. Dieser Aufenthalt war nachweislich von 24. Februar 2003 bis zur Beendigung seines Asylverfahrens am 24. März 2010, also mehr als sieben Jahre, rechtmäßig.

Das Gewicht der aus der Aufenthaltsdauer ableitbaren Integration wird jedoch angesichts der ständigen Judikatur des VwGH dadurch gemindert, als der Aufenthalt des Bw während des Asylverfahrens nur aufgrund eines Antrages, welcher sich letztendlich als unberechtigt erwiesen hat, temporär berechtigt war. Dem Bw musste bewusst sein, dass er ein Privatleben während eines Zeitraumes, in dem er einen "unsicheren" Aufenthaltsstatus hatte, geschaffen hat, (vgl. etwa Erkenntnis vom 08.11.2006, Zahl 2006/18/0344 sowie Zahl 2006/18/0226 ua.). Er durfte nicht von vornherein damit rechnen, nach einem allfälligen negativen Ausgang des Asylverfahrens weiterhin in Österreich bleiben zu dürfen.

Im Hinblick auf den rund neun Jahre währenden Aufenthalt in Österreich ist im Besonderen auf die die jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abzustellen. Wie folgt wiedergegeben, hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 22. Dezember 2009, GZ 2009/21/0348, einer sozialen Integration, obwohl sie in einem Zeitraum entstanden ist, während dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war, ein nicht unbeachtliches Gewicht beigemessen:

 

Das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich ist in seinem Gewicht gemindert, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (E. vom 22. Oktober 2009, Zl. 2009/21/0293; E. vom 29. September 2009, Zl. 2009/21/0253; E. des VfGH vom 3. März 2008, B 825/07 mit Bezug auf die Urteile des EGMR vom 31. Jänner 2006, Rodrigues da Silva und Hoogkaamer gegen die Niederlande [Beschwerde Nr. 50435/99] und vom 31. Juli 2008, Darren Omoregie u.a. gegen Norwegen [Beschwerde Nr. 265/07]). Der EGMR stellt in den angesprochenen Urteilen darauf ab, ob das Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen bewusst waren, der Aufenthaltsstatus eines Familienmitgliedes sei derart, dass der Fortbestand des Familienlebens im Gastland von vornherein unsicher ist. Sei das der Fall, bewirke eine Ausweisung des ausländischen Familienangehörigen nur unter ganz speziellen bzw. außergewöhnlichen Umständen ("in exceptional circumstances") eine Verletzung von Art 8 EMRK (vgl.: E vom 19. Februar 2009, Zl. 2008/18/0721, E. vom 30. April 2009, Zl. 2009/21/0086). In diesem Sinn ist nach der Z. 8 des § 66 Abs. 2 FPG [in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011] aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Annordnung bei der Interessensabwägung darauf Bedacht zu nehmen, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war. Freilich hat die genannte Bestimmung schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte.

 

Im Erkenntnis vom 20. Jänner 2011, Zl. 2010/22/0158, hat der Verwaltungsgerichtshof bei einer im Wesentlichen vergleichbaren Sachlage, jedoch eines knapp über 10 Jahre bestehenden Aufenthaltes, dem persönlichen Interesse des Fremden am Verbleib in Österreich ein solches Gewicht beigemessen, dass eine Ausweisung unzulässig ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat dabei wie folgt ausgeführt:

 

Der Beschwerdeführer verweist auf seine Erwerbstätigkeit und darauf, dass er sich während seines Aufenthaltes in Österreich "in privater Hinsicht sehr gut integriert" habe. Die belangte Behörde hob zwar zu Recht hervor, dass dem Beschwerdeführer bereits nach erstinstanzlicher Abweisung seines Asylantrages die Unsicherheit seines Aufenthaltsstatus bewusst war, er somit nicht mit einem legalen Aufenthalt in Österreich rechnen durfte. Sie ist auch darin im Recht, dass dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. für viele etwa das Erkenntnis vom 6. Juli 2010, 2008/22/0688). Dementsprechend haben Fremde nach Abweisung ihres Asylantrages grundsätzlich den rechtmäßigen Zustand durch Ausreise aus dem Bundesgebiet herzustellen. Demgegenüber vermag der Beschwerdeführer jedoch einen bereits über zehnjährigen Aufenthalt in Österreich für sich ins Treffen zu führen und es stellte die belangte Behörde auch fest, dass er erwerbstätig ist. Diese Umstände verleihen dem persönlichen Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich ein solches Gewicht, dass die Ausweisung unverhältnismäßig erscheint (vgl. zu ähnlichen Fällen etwa die E. vom 26. August 2010, 2010/21/0206 und 2010/21/0009).

 

4.4.2. Mit rund neun Jahren Dauer kann der Bw auf einen langen, großteils rechtmäßigen, Aufenthalt in Österreich verweisen. Bezüglich des von der belangten Behörde ins Treffen geführten unsicheren Aufenthalts des Bw zum Zeitpunkt des Entstehens des Privatlebens ist insbesondere auf die oben zitierte jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen.

 

Der Bw ist zum überwiegenden Teil seines Aufenthalts einer legalen, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass eine Integration am Arbeitsmarkt gelungen ist und auch in Zukunft gegeben sein wird. 

 

Es kann dem Bw wohl nach einem rund neunjährigen Aufenthalt ein hohes Maß an Integration zugemessen werden, was auch dadurch belegt wird, dass er die Deutschprüfung auf Niveau A2 abgelegt hat, nahezu während seines gesamten Aufenthalts in Österreich einer unselbstständigen, versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgegangen ist, ständig versichert war und seine letzte Anstellung sich über mehrere Jahren im selben Betrieb erstreckt hat. 

 

Nach dem in Rede stehenden Zeitraum ist durchaus nachvollziehbar, dass die Bindung an den Heimatstaat keine relevante Ausprägung mehr erreicht. Demgegenüber ist nicht unerheblich, dass der Bw etwa 36 Jahre in der Türkei gelebt hat und dort seine Ausbildung und den Militärdienst absolviert und mehrere Jahre gearbeitet hat. Seinen Angaben, er würde im Falle einer Aufenthaltsbeendigung seine soziale Existenz verlieren, verleiht der Bw dadurch Glaubwürdigkeit, als er angibt, über keinen Wohnsitz in der Türkei zu verfügen und sich aus dem vorgelegten Akt keinerlei Hinweise auf bestehende familiäre Kontakte ergeben.

 

Der Bw ist strafgerichtlich unbescholten. Die von der belangten Behörde als integrationsmindernd gewerteten Verwaltungsübertretungen sind großteils getilgt, die beiden noch nicht getilgten Verwaltungsübertretungen beziehen sich auf unterlassene Mitwirkung bei der Feststellung des Sachverhalts eines Verkehrsunfalls gemäß § 4 Abs. 1 lit. c StVO und auf unterlassene Verständigung der Polizei im Fall eines Verkehrsunfalls mit Sachschaden gemäß § 4 Abs. 5 StVO.

 

Diese beiden Verwaltungsübertretungen sind nach Ansicht des erkennenden Mitglieds des Unabhängigen Verwaltungssenats Oö. nicht dazu geeignet, Rückschlüsse auf eine gewisse Gleichgültigkeit eines strafrechtlich unbescholtenen, nachweislich beruflich und sozial integrierten Fremden gegenüber den österreichischen Gesetzen zuzulassen und diesem bei der Feststellung des Grades seiner Integration zum Nachteil zu gereichen, insbesondere da der Bw mit Ausnahme der Erfüllung dieser beiden Tatbestandsmerkmale offensichtlich allen anderen Verwaltungsvorschriften, die im Falle eines Verkehrsunfalls zu berücksichtigen sind, entsprochen hat.

 

Gemäß der oben angeführten Judikatur des VwGH und VfGH ist in diesem Fall hinsichtlich der Frage eines unsicheren Aufenthalts nach § 61 Abs. 2 Z. 8 FPG bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände festzustellen, dass die für die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sprechenden privaten Elemente die des öffentlichen Interesses gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK überwiegen.

 

Nicht zuletzt wird auch davon auszugehen sein, dass gemäß § 61 Abs. 2 Z. 9 FPG von einer eher in die Sphäre der Behörden fallenden langen Verfahrensdauer gesprochen werden muss, zumal das Asylverfahren bis zur rechtskräftigen letztinstanzlichen Entscheidung mehr als sieben Jahre gedauert hat.   

 

Die dargelegten Umstände verleihen dem persönlichen Interesse des Bw an einem Verbleib in Österreich ein solches Gewicht, dass die Rückkehrentscheidung unverhältnismäßig ist.

 

4.5. Im Ergebnis ist eine Rückkehrentscheidung im Hinblick auf das Privatleben des Bw auf Dauer unzulässig.

 

4.6. Es war daher der Berufung stattzugeben, der angefochtene Bescheid aufzuheben und spruchgemäß zu entscheiden.

 

5. Da der Bw ausreichend der deutschen Sprache mächtig ist, konnte gemäß      § 59 Abs. 1 FPG von der Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung Abstand genommen werden.

 

 

 

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

 

Hinweis:

1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einer bevollmächtigten Rechtsanwältin oder einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingebracht werden. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

2. Im Verfahren sind Stempelgebühren in Höhe von 14,30 Euro (Eingabegebühr) angefallen.

 

 

 

 

Mag Stierschneider

 

 

 

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