Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-730026/8/SR/ER/Wu

Linz, 28.02.2012

E R K E N NT N I S

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Christian Stierschneider über die Berufung des X, geb. X, StA von Marokko, vertreten durch X, Rechtsanwalt in X, gegen den Bescheid des Polizeidirektors der Landeshauptstadt Linz vom 15. März 2010, AZ: 1006785/FRB, betreffend die Ausweisung des Berufungswerbers nach dem Fremdenpolizeigesetz, zu Recht erkannt:

 

I.         Der Berufung wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid

            ersatzlos aufgehoben.

 

II.        Eine Rückkehrentscheidung ist auf Dauer unzulässig

 

 

Rechtsgrundlage:

§ 66 Abs. 4 iVm. § 67a Abs. 1 Z 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG

 

 

Entscheidungsgründe:

 

 

1. Mit Bescheid des Polizeidirektors der Landeshauptstadt Linz vom 15. März 2010, AZ: 1006785/FRB, wurde gegen den Berufungswerber (im Folgenden: Bw) auf Basis der § 53 Abs. 1 in Verbindung mit §§ 31 Abs. 1 und 1a sowie 66 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 – FPG in der zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Fassung, die Ausweisung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich angeordnet.

 

Die belangte Behörde führt zum Sachverhalt im Wesentlichen aus, dass dem Bw, einem Staatsangehörigen von Marokko, erstmalig am 14. Februar 2002 eine quotenfreie Aufenthaltsbewilligung für den Zweck "Student" erteilt worden sei. In der Folge habe der Bw fristgerecht Verlängerungsanträge gestellt und sei zuletzt bis 4. März 2009 in Besitz einer Aufenthaltsbewilligung gewesen. Sein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung für den Zweck "Studierender" vom 26. Februar 2009 sei mangels entsprechender Studienerfolgsnachweise mit 30. April 2009 rechtskräftig zurückgewiesen worden.

 

Aufgrund seines ab diesem Zeitpunkt illegalen Aufenthalts in Österreich sei dem Bw mit Schreiben der Bundespolizeidirektion Linz vom 20. Juli 2009 die beabsichtigte Ausweisung mitgeteilt und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme geboten worden.

 

In seiner Stellungnahme habe er angegeben, einen neuerlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 44 Abs. 3 und Abs. 4 sowie § 47 NAG gestellt zu haben. Er verweise auf die dort enthaltenen Ausführungen, aus denen u.a. hervorgehe, dass er während seines Aufenthalts in Österreich an Tuberkulose erkrankt sei, das Therapieende sei von der Gesundheitsbehörde mit 22. November 2003 festgesetzt worden.

 

Der Bw wohne in der Mietwohnung seines Bruders, einem österreichischen Staatsbürger, der für ihn eine Haftungserklärung abgegeben habe.

 

Er selbst sei geringfügig beschäftigt und verfüge über ein monatliches Nettoeinkommen von € 350,--. Der Bw sei der deutschen Sprache in Wort und Schrift mächtig, er sei unbescholten und bemüht, die österreichischen Gesetze zu achten.

 

Sein Freundeskreis befinde sich in Österreich, in X lebe seine Tante und zu seinen in Marokko lebenden Eltern habe er keinen Kontakt mehr. In Marokko habe er keine Wohnung und die medizinische Versorgung entspräche – im Falle einer Wiedererkrankung – nicht mitteleuropäischen Standards.

 

Am 4. August 2009 habe der Bw beim Magistrat Linz einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 43 Abs. 2 NAG gestellt.

 

Nach Wiedergabe der angewendeten Rechtsvorschriften stellt die belangte Behörde fest, dass sich der Bw seit 26. Februar 2009 insofern rechtswidrig in Österreich aufhalte, als ihm seit diesem Zeitpunkt kein weiterer Aufenthaltstitel nach dem NAG erteilt worden sei und ihm auch aus keiner anderen gesetzlichen Bestimmung ein Aufenthaltsrecht zukomme.

Der Bw sei bei verschiedenen Dienstgebern sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen nachgegangen, seit 19. August 2009 gehe er keiner Beschäftigung mehr nach, sei jedoch selbstständig krankenversichert.

 

Zur Integration des Bw stellt die belangte Behörde fest, dass dem Bw ein seinem Aufenthalt entsprechendes Maß zuzubilligen sei und dass die Ausweisung mit einem nicht unerheblichen Eingriff in sein Privat- und Familienleben verbunden sei, wobei die belangte Behörde die Volljährigkeit des Bw und die fehlende Hausgemeinschaft mit den angegebenen Verwandten bzw. des Fehlen einer Kernfamilie in Österreich als integrationsmindernd wertet.

 

Zur vom Bw angegebenen fehlenden Bindung zum Herkunftsstaat merkt die belangte Behörde an, dass sich dies dadurch relativiere, als der Bw erst im Alter von 21,5 Jahren aus Marokko ausgereist sei und mehr als die Hälfte seines bisherigen Lebens dort verbracht habe, weshalb von einer Entfremdung nicht gesprochen werden könne. Allfällige Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung in seinem Heimatstaat habe er in Kauf zu nehmen.

 

Seine bisherige Aufenthaltsbewilligung habe auf dem Zweck des Studiums beruht. Der Bw habe einen völlig unzureichenden Studienerfolg aufgewiesen, weshalb zu diesem Zweck kein weiterer Aufenthaltstitel erteilt worden sei. Außerdem habe dem Bw bereits während seines rechtmäßigen Aufenthalts klar sein müssen, dass der Aufenthaltstitel auf Studienzwecke beschränkt und nicht Grundlage für einen dauerhaften Aufenthalt sei.

 

Auch seine Erkrankung an Tuberkulose, deren Therapie im November 2003 beendet worden sei, hätte ihn nicht daran gehindert, nach Therapieende sein Studium erfolgreich zu betreiben.   

 

Betreffend den Einwand, im Wiedererkrankungsfall im Heimatland über keine mitteleuropäische Gesundheitsversorgung zu verfügen, hält die belangte Behörde fest, dass es sich dabei um ein ungewisses, zukünftiges Ereignis handle. Der Bw habe nicht darzulegen vermocht, weshalb eine bestimmte Behandlung für ihn notwendig sei und warum diese ausschließlich in Österreich erfolgen könne. Nur dies führe nämlich zu einem in der Erkrankung begründeten privaten Interesse im Sinne des Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich. Demgegenüber habe ein Fremder, der Rechtssprechung des VwGH folgend, kein Recht, in seinem aktuellen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet.  Der Bw leide derzeit nicht an Tuberkulose.

 

Seinen privaten Interessen stehe das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremden- und Studienwesens gegenüber. Daher könne nicht sanktionslos hingenommen werden, dass sich Fremde unter dem Vorwand eines Studiums die Bewilligung für die Einreise nach Österreich und zum anschließenden Aufenthalt verschaffen, sich jedoch in weiterer Folge nicht bemühen, das Studium ernsthaft zu betreiben.

 

Seine strafrechtliche Unbescholtenheit könne bei der Ausweisungsentscheidung gegen den Bw nicht entscheidend ins Gewicht fallen.

 

Zusammenfassend stellt die belangte Behörde fest, dass die öffentlichen Interessen an der Ausreise des Bw schwerer wiegen würden als die von ihm behauptete bzw. festgestellte Integration und somit die Ausweisung zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele geboten und im Lichte des § 66 Abs. 1 unter besonderer Berücksichtigung des § 66 Abs. 2 und 3 FPG (in der damals geltenden Fassung) zulässig seien.

 

Umstände, die eine Aufenthaltsverfestigung des Bw erkennen ließen, seien nicht feststellbar.

 

Auch der Umstand, dass der Bw einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 43 Abs. 2 NAG gestellt habe, verschaffe ihm kein Aufenthalts- oder Bleiberecht.

 

2. Gegen diesen Bescheid, zugestellt am 17. März 2010, erhob der Bw, vertreten durch seinen Rechtsanwalt, rechtzeitig Berufung mit Schriftsatz vom 30. März 2010. Darin werden die Anträge gestellt, den Ausweisungsbescheid zu beheben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung an die Behörde erster Instanz zu verweisen, in eventu den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass von der Ausweisung aus dem Bundesgebiet Abstand genommen wird.

 

Der Bw bestätigt in seiner Berufung im Wesentlichen den von der belangten Behörde festgestellten Sachverhalt und bringt weiter vor, dass er am Institut für Fachsprachen der Johannes Kepler Universität Linz gemäß § 48 UniStG mündlich und schriftlich nachgewiesen habe, der deutschen Sprache in Wort und Schrift mächtig zu sein. Ergänzend führt der Bw aus, dass sich sein gesamter Freundeskreis in Österreich befinde und er keine Kontakte mehr nach Marokko habe. Seit seiner Tuberkuloseerkrankung sei es ihm nicht mehr möglich gewesen, den Studienerfolg voranzutreiben. Ferner bringt der Bw vor, noch immer in der Wohnung seines Bruders zu wohnen und auch mit seiner Tante in engem Kontakt zu stehen. Durch seinen Aufenthalt seit Februar 2002 fühle er sich der Demokratie und den Werten Österreichs tief verbunden.

Die belangte Behörde habe sein durch die lange Aufenthaltsdauer entstandenes Privat- und Familienleben nicht entsprechend gewürdigt. Art. 8 EMRK schütze alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben oder in deren gegenseitigen Beziehungen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Insbesondere zu seinem Bruder bestehe eine besonderes Naheverhältnis, da er in dessen Wohnung wohne und der Bruder eine Haftungserklärung für ihn abgegeben habe. Er stelle außerdem keine Gefahr im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK dar, eine Ausweisung sei somit nicht zulässig.

 

Seiner Berufung legte der Bw einen Sprachnachweis, die Haftungserklärung und eine Bestätigung über die weitere Wohnmöglichkeit des Bw in der Wohnung seines Bruders bei.

Mit E-Mail vom 16. November 2011 gab der Rechtsvertreter des Bw bekannt, dass er nicht mehr an der Universität inskribiert sei, für ihn aber ein Arbeitsplatz bereitstehe, sobald er über einen Aufenthaltstitel verfüge und legte die Bestätigung über die beabsichtigte Beschäftigung vor. Derzeit könne er keine Studienerfolge vorlegen, beabsichtige aber das Studium wieder aufzunehmen, sobald sein Verbleib in Österreich geregelt sei.

 

Mit Schreiben vom 17. Februar 2012 führte der Rechtsvertreter ergänzend zur Berufung aus, dass der Bw nach wie vor in der Wohnung seines Bruder lebe, dieser über ein ausreichendes Einkommen verfüge und für den Lebensunterhalt des Bw aufkomme. Der Bw habe derzeit keinen Arbeitsplatz, da er über keinen Aufenthaltstitel verfüge; die am 16. November 2011 vorgelegte Einstellungszusage sei aber weiterhin aufrecht. In dieser Firma habe der Bw bereits fast drei Jahre gearbeitet, sein Arbeitsverhältnis sei nur aufgrund seines fehlenden Aufenthaltstitels beendet worden. Derzeit sei es ihm aufgrund seiner finanziellen Lage nicht möglich, sein Studium fortzusetzen, da er die Studiengebühren nicht aufbringen könne.

Der Bw spreche fließend deutsch und sei in Österreich gut integriert, er sei unbescholten und habe sich stets wohl verhalten. Er sei seit 10 Jahren in Österreich und habe hier seinen gesamten Freundeskreis, insbesondere seine beiden Bezugspersonen – nämlich seine Freundin und Bruder – würden in Österreich leben. Sowohl der Bruder als auch die Freundin seien österreichische Staatsbürger, seine Freundin lebe in Scheidung und beabsichtige nach der Scheidung mit dem Bw eine Familie zu gründen.

Auch die Tante lebe nach wie vor in Österreich, zu seinen in Marokko lebenden, mittellosen Eltern habe der Bw keinen Kontakt. Auch durch die instabile politische Situation in Marokko hätte der Bw keine wirtschaftlichen Chancen in seinem Herkunftsstaat.

Abschließend verweist er nochmals auf seine 2002 aufgetretene Tuberkuloseerkrankung und auf die nicht ausreichenden medizinische Versorgungsmöglichkeiten in Marokko für den Fall einer Wiedererkrankung und ersucht, der Berufung Folge zu geben.

3. Die belangte Behörde legte zunächst den in Rede stehenden Verwaltungsakt der Sicherheitsdirektion Oberösterreich vor.

 

Mit 1. Juli 2011 trat das Fremdenrechtsänderungsgesetz, BGBl. I Nr. 38/2011 in wesentlichen Teilen in Kraft. Aus § 9 Abs. 1a FPG in der nunmehr geltenden Fassung ergibt sich, dass der Unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über die Berufung zuständig ist, weshalb der in Rede stehende Verwaltungsakt von der Sicherheitsdirektion Oberösterreich – nach Inkrafttreten der Novelle am 1. Juli 2011 – dem Unabhängigen Verwaltungssenat übermittelt wurde.

 

3.1. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde, durch mündliche Auskunft der Oö. Gebietskrankenkasse, sowie durch je einen aktuellen Versicherungs- und Meldedatenauszug des Bw.

 

3.2. Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Sache nicht erwarten lässt (§ 67d Abs. 4 AVG).

 

Der Oö. Verwaltungssenat geht bei seiner Entscheidung von dem unter den Punkten 1. und 2. dieses Erkenntnisses dargestellten unbestrittenen Sachverhalt aus.

Darüber hinaus stellt der Oö. Verwaltungssenat aufgrund der ergänzenden Unterlagen fest, dass der Bw derzeit keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachgeht, nicht bei seinem Bruder wohnt, jedoch der Bruder Unterkunftgeber der vom Bw benutzten Wohnung ist.

 

3.3. Der Unabhängige Verwaltungssenat ist zur Entscheidung durch eines seiner Mitglieder berufen (vgl. § 67a Abs. 1 Z 1 AVG).

 

4. In der Sache hat der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich erwogen:

 

4.1.1. Gemäß § 125 Abs. 14 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 erlassene Ausweisungen gemäß § 53 als Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter, mit der Maßgabe, dass ein Einreiseverbot gemäß § 53 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 damit nicht verbunden ist.

 

4.1.2. Im vorliegenden Fall wurde die Ausweisung auf Basis des § 53 FPG (in der Fassung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011) erlassen, weshalb diese Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne des § 52 FPG in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 anzusehen und zu beurteilen ist.

 

4.2.1. Gemäß § 52 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, ist gegen einen Drittstaatsangehörigen, sofern nicht anderes bestimmt ist, mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die Rückkehrentscheidung wird mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Berufung gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 66 Abs. 4 AVG auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

 

4.2.2. Im vorliegenden Fall ist auch vom Bw selbst unbestritten, dass er über keinerlei Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt.

 

Allerdings ist bei der Beurteilung der Rückkehrentscheidung sowohl auf Art. 8 EMRK als auch auf § 61 FPG Bedacht zu nehmen.

 

4.3. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist allerdings ein Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts gemäß Abs. 1 (nur) statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Nach § 61 Abs. 1 FPG ist, sofern durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 2 FPG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

1.         die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der       bisherige         Aufenthalt des Fremden rechtmäßig war;

2.         das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3.         die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4.         der Grad der Integration;

5.         die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6.         die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7.         Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des     Asyl-   Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8.         die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem            Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren   Aufenthaltstatus bewusst waren;

9.         die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden       zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 3 FPG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein aufgrund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder 51ff. NAG) verfügen, unzulässig wäre.

 

Gemäß § 125 Abs. 20 FPG, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes, BGBl. I Nr. 38/2011 vorgenommene Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 66 als Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 61 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter.

 

4.4. Im Sinne der zitierten Normen ist eine Interessenabwägung – basierend auf einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung – vorzunehmen.

 

Gestützt auf die ständige Rechtsprechung der Höchstgerichte ist es grundsätzlich zulässig und erforderlich, Maßnahmen zu ergreifen, um den unrechtmäßigen Aufenthalt einer Person zu beenden, da ein solcher rechtswidriger Status fraglos dazu geeignet ist, die öffentliche Ordnung eines Staates massiv zu beeinträchtigen. Daraus folgt, dass das diesbezügliche öffentliche Interesse hoch anzusetzen ist und eine Rückkehrentscheidung grundsätzlich ein nicht inadäquates Mittel darstellt, um einen rechtskonformen Zustand wiederherzustellen. Dies gilt jedoch nur insofern, als die privaten bzw. familiären Interessen im jeweils konkreten Einzelfall nicht als höherrangig anzusehen sind.

 

4.4.1. Der belangten Behörde folgend ist, mangels Vorliegens eines Familienlebens im engeren Sinn (vgl. § 2 Abs. 4 Z 12 FPG) im Bundesgebiet, im Wesentlichen eine Interessensabwägung gemäß § 61 Abs. 2 FPG hinsichtlich des Privatlebens des Bw vorzunehmen, wobei insbesondere auch auf die familiären Beziehungen zu seinen in Österreich lebenden Verwandten, seiner Freundin, seine berufliche und soziale Integration und die lange Aufenthaltsdauer Bedacht zu nehmen ist.

 

In Anbetracht seines zehn Jahre währenden Aufenthaltes im Bundesgebiet ist dem Bw eine der Dauer seines Aufenthaltes entsprechende Integration zuzugestehen. Dieser Aufenthalt war nachweislich von 14. Februar 2002 bis zur Rechtskraft des am 13. Juli 2009 zurückgewiesenen Verlängerungsantrags  – also fast siebeneinhalb Jahre – rechtmäßig.

 

Das Gewicht der aus der Aufenthaltsdauer ableitbaren Integration wird jedoch angesichts der jüngsten Judikatur des VwGH (Erkenntnis vom 22. Februar 2011, Zl. 2010/18/0453) dadurch gemindert, dass "auch der vorerst rechtmäßige Aufenthalt des Beschwerdeführers [...] ursprünglich nicht auf Dauer nur zum Zweck der Absolvierung einer Ausbildung bzw. eines Studiums - die bzw. das jedoch nicht einmal begonnen wurde – vorgesehen [war], sodass er zu keinem Zeitpunkt damit rechnen durfte, ein Familienleben in Österreich fortsetzen zu können."

 

Der Bw durfte nicht von vornherein damit rechnen, nach Wegfall der Voraussetzungen für seinen Aufenthalt als Studierender weiterhin in Österreich bleiben zu dürfen, insbesondere da er keinen, einen weiteren Aufenthalt in Österreich rechtfertigenden, Studienerfolg nachweisen konnte. Vielmehr gibt er selbst an, seit seiner Tuberkuloseerkrankung – die im Jahr 2002 aufgetreten ist – keinen Studienerfolg nachgewiesen zu haben.

 

Im Hinblick auf den zehn Jahre währenden Aufenthalt in Österreich ist aber im Besonderen auf die die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abzustellen. Wie folgt wiedergegeben, hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 22. Dezember 2009, GZ 2009/21/0348, einer sozialen Integration, obwohl sie in einem Zeitraum entstanden ist, während dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war, ein nicht unbeachtliches Gewicht beigemessen:

 

Das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich ist in seinem Gewicht gemindert, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (E. vom 22. Oktober 2009, Zl. 2009/21/0293; E. vom 29. September 2009, Zl. 2009/21/0253; E. des VfGH vom 3. März 2008, B 825/07 mit Bezug auf die Urteile des EGMR vom 31. Jänner 2006, Rodrigues da Silva und Hoogkaamer gegen die Niederlande [Beschwerde Nr. 50435/99] und vom 31. Juli 2008, Darren Omoregie u.a. gegen Norwegen [Beschwerde Nr. 265/07]). Der EGMR stellt in den angesprochenen Urteilen darauf ab, ob das Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen bewusst waren, der Aufenthaltsstatus eines Familienmitgliedes sei derart, dass der Fortbestand des Familienlebens im Gastland von vornherein unsicher ist. Sei das der Fall, bewirke eine Ausweisung des ausländischen Familienangehörigen nur unter ganz speziellen bzw. außergewöhnlichen Umständen ("in exceptional circumstances") eine Verletzung von Art 8 EMRK (vgl.: E vom 19. Februar 2009, Zl. 2008/18/0721, E. vom 30. April 2009, Zl. 2009/21/0086). In diesem Sinn ist nach der Z. 8 des § 66 Abs. 2 FPG [in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011] aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Annordnung bei der Interessensabwägung darauf Bedacht zu nehmen, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war. Freilich hat die genannte Bestimmung schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte.

 

Im Erkenntnis vom 20. Jänner 2011, Zl. 2010/22/0158, hat der Verwaltungsgerichtshof bei einer im Wesentlichen vergleichbaren Sachlage, jedoch eines knapp über 10 Jahre bestehenden Aufenthaltes, dem persönlichen Interesse des Fremden am Verbleib in Österreich ein solches Gewicht beigemessen, dass eine Ausweisung unzulässig ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat dabei wie folgt ausgeführt:

 

Der Beschwerdeführer verweist auf seine Erwerbstätigkeit und darauf, dass er sich während seines Aufenthaltes in Österreich "in privater Hinsicht sehr gut integriert" habe. Die belangte Behörde hob zwar zu Recht hervor, dass dem Beschwerdeführer bereits nach erstinstanzlicher Abweisung seines Asylantrages die Unsicherheit seines Aufenthaltsstatus bewusst war, er somit nicht mit einem legalen Aufenthalt in Österreich rechnen durfte. Sie ist auch darin im Recht, dass dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. für viele etwa das Erkenntnis vom 6. Juli 2010, 2008/22/0688). Dementsprechend haben Fremde nach Abweisung ihres Asylantrages grundsätzlich den rechtmäßigen Zustand durch Ausreise aus dem Bundesgebiet herzustellen. Demgegenüber vermag der Beschwerdeführer jedoch einen bereits über zehnjährigen Aufenthalt in Österreich für sich ins Treffen zu führen und es stellte die belangte Behörde auch fest, dass er erwerbstätig ist. Diese Umstände verleihen dem persönlichen Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich ein solches Gewicht, dass die Ausweisung unverhältnismäßig erscheint (vgl. zu ähnlichen Fällen etwa die E. vom 26. August 2010, 2010/21/0206 und 2010/21/0009).

 

4.4.2. Wie sich aus dem Sachverhalt ergibt, befindet sich der Bw seit (knapp über) zehn Jahren im Bundesgebiet, wobei dieser Aufenthalt fast siebeneinhalb Jahre rechtmäßig war. Zudem wird nicht angezweifelt, dass er über Deutsch-Sprachkenntnisse verfügt, was er durch die Vorlage einer entsprechenden Bestätigung der Johannes Kepler Universität Linz belegen konnte.

 

Zweifelsohne greift die Ausweisung in das Privatleben des Bw ein, zumal er angibt sehr enge Kontakte zu seinem Bruder in Österreich zu pflegen, zu dem er in einem über das in einer solchen Familienbeziehung übliche Ausmaß zwischen Erwachsenen hinausgehenden Abhängigkeitsverhältnis steht, da sein gesamter Lebensunterhalt – einschließlich der Wohnung – von seinem Bruder bestritten wird. Der Bw verweist außerdem glaubhaft auf eine aufrechte Beziehung zu seiner in der Ergänzungsschrift zur Berufung namhaft gemachten Freundin.

 

Der Bw ist während seines Aufenthalts rund drei Jahre lang legalen, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen nachgegangen. Seit 19. August 2009 geht der Bw keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mehr nach. Der Bw verfügt glaubhaft über eine seiner Beschäftigungsdauer entsprechende berufliche Integration, wobei insbesondere auch darauf Bedacht genommen werden muss, dass der Bw – die Erteilung der entsprechenden Bewilligungen vorausgesetzt – nachweislich sofort wieder zu arbeiten beginnen kann.

 

Der Bw ist strafgerichtlich unbescholten.

 

Gemäß der oben angeführten Judikatur des VwGH und des VfGH ist in diesem Fall hinsichtlich der Frage des unsicheren Aufenthalts nach § 61 Abs. 2 Z. 8 FPG bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände festzustellen, dass die für die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sprechenden privaten Elemente die des öffentlichen Interesses gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK überwiegen.

 

Nicht zuletzt wird auch davon auszugehen sein, dass gemäß § 61 Abs. 2 Z. 9 FPG von einer eher in die Sphäre der Behörden fallenden langen Verfahrensdauer gesprochen werden muss, zumal es dem Bw während seines gesamten Aufenthalts als "Studierender" kein einziges Mal gelungen ist, die seinen Aufenthalt rechtfertigenden Studienerfolgsnachweise vorzulegen, sein Titel aber dennoch immer wieder vom Magistrat der Landeshauptstadt Linz verlängert wurde, sodass er auf einen fast siebeneinhalbjährigen legalen Aufenthalt verweisen kann.

 

Anzumerken ist, dass aufgrund der Zurückweisung seines am 26. Februar 2009 letztmalig gestellten Verlängerungsantrags zum Aufenthaltszweck "Studierender" der Bw seit Rechtskraft dieser Zurückweisung nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig ist, weshalb eine Ausweisung gemäß § 53 FPG in der damals geltenden Fassung ausgesprochen wurde. Wäre der Antrag nicht zurückgewiesen, sondern eine Ausweisung gemäß § 54 FPG in der damals geltenden Fassung eingeleitet worden, wäre darüber aufgrund des Vorliegens von Versagungsgründen für die weitere Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz abzusprechen gewesen. Im Ausweisungsverfahren gemäß § 53 FPG in der damals geltenden bzw. § 52 FPG in der geltenden Fassung sind Versagungsgründe nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz nicht zu berücksichtigen.

 

4.4.3. Bei Gesamtbetrachtung aller Umstände ist festzuhalten, dass die persönlichen Interessen des Bw die für die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sprechenden Elemente des öffentlichen Interesses gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig überwiegen. 

 

4.5. Im Ergebnis ist eine Rückkehrentscheidung im Hinblick auf das Privatleben des Bw auf Dauer unzulässig.

 

4.6. Es war daher der Berufung stattzugeben, der angefochtene Bescheid aufzuheben und spruchgemäß zu entscheiden.

 

5. Im Hinblick darauf, dass der Bw ausreichend der deutschen Sprache mächtig ist, konnte gemäß § 59 Abs. 1 FPG von der Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung Abstand genommen werden.

 

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

Hinweis:

1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einer bevollmächtigten Rechtsanwältin oder einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingebracht werden. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

2. Im Verfahren sind Stempelgebühren in Höhe von 14,30 Euro (Eingabegebühr) und 23,40 Euro für Beilagen, insgesamt 37,70 Euro, angefallen.

 

 

Mag. Christian Stierschneider

 

 

 

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