Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-730087/9/SR/ER/Wu

Linz, 13.03.2012

E r k e n n t n i s

 

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Mag. Christian Stierschneider über die Berufung des X, geb. X, StA der Türkei, vertreten durch X, Rechtsanwalt in X, gegen den Bescheid des Polizeidirektors der Landeshauptstadt Linz vom 14. Juli 2010, AZ: 1055871/FRB, betreffend eine Ausweisung des Berufungswerbers nach dem Fremdenpolizeigesetz, zu Recht erkannt:

 

 

             I.      Der Berufung wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos aufgehoben.

 

          II.      Eine Rückkehrentscheidung ist auf Dauer unzulässig.

 

 

 

Rechtsgrundlage:

§ 66 Abs. 4 iVm. § 67a Abs. 1 Z 1 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG

 


Entscheidungsgründe:

 

 

1. Mit Bescheid des Polizeidirektors der Landeshauptstadt Linz vom 14. Juli 2010, AZ: 1055871/FRB, wurde gegen den Berufungswerber (im Folgenden: Bw) auf Basis der §§ 53 Abs. 1 iVm. 31 Abs. 1. und 1a sowie § 66 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 – FPG in der zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Fassung, die Ausweisung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich angeordnet.

 

Neben der Wiedergabe der angewendeten Rechtsvorschriften führt die belangte Behörde zum Sachverhalt zunächst aus, dass der Bw im April 2006 illegal nach Österreich eingereist sei und einen Asylantrag gestellt habe, der mit 31. März 2010 rechtskräftig abgewiesen worden sei, weshalb er sich seither nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. 

 

Am 28. April 2010 habe der rechtsfreundliche Vertreter des Bw eine Stellungnahme erstattet. Darin habe er angegeben, dass der Bw drei Jahre eine Schule in der Türkei besucht und danach eine sechsjährige Ausbildung zum Schlosser absolviert habe. Bevor der Bw nach Österreich eingereist sei, habe er in Deutschland in einem Asylheim gewohnt. Seit April 2006 halte sich der Bw in Österreich auf und sei seiner Aufenthaltsdauer entsprechend gut integriert und führe hier sein Familien- und Privatleben mit seiner (nur kirchlich angetrauten) Frau und der am X geborenen Tochter. Seine Frau und seine Tochter würden über Niederlassungsbewilligungen verfügen und seit 2004 in Österreich leben. Die Tochter besuche die Schule.

Der Bw beabsichtige, seine Frau in Österreich auch standesamtlich zu heiraten. Die Eltern der Frau, die gleichzeitig Onkel und Tante des Bw seien, sowie ein weiterer Onkel und eine weitere Tante würden in Österreich leben und hätten allesamt die österreichische Staatsbürgerschaft. Der Bw habe einen großen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich.

Der Bw verfüge über keine Arbeitsbewilligung, aber seine Frau, die vollzeitbeschäftigt sei, würde für den Familienunterhalt aufkommen. Auch die Schwiegereltern würden regelmäßig mit Geldgeschenken aushelfen. Der Bw sei freiwillig selbstversichert.

Der Bw sei strafrechtlich unbescholten.

Er habe zwar noch Geschwister im Herkunftsstaat, bei denen er aber aufgrund deren beengter Wohnverhältnisse nicht wohnen könne. Die Eltern seien verstorben und er hätte aufgrund seiner langen Abwesenheit große Schwierigkeiten, Arbeit zu finden.

 

Mit Schriftsatz vom 10. Mai 2010 seien eine Bestätigung über eine erfolgte Prüfungsanmeldung am Berufsförderungsinstitut Oberösterreich, eine Einstellungszusage für den Bw sowie zahlreiche Unterstützungserklärungen von österreichischen Staatsbürgern übermittelt worden.

Mit Schriftsatz vom 29. Juni 2010 sei ein Arbeitsvertrag unter aufschiebender Bedingung übermittelt worden.

 

Darüber hat die belangte Behörde im Wesentlichen erwogen, dass dem Bw eine seiner Aufenthaltsdauer und seinen Verwandtschaftsverhältnissen in Österreich entsprechende Integration zuzugestehen sei. Durch die Ausweisung werde zweifellos in das Privat- und Familienleben des Bw eingegriffen. Diese Integration werde aber durch den Umstand gemindert, dass sie während eines Zeitraums entstanden sei, in dem der Aufenthalt des Bw aufgrund des Asylverfahrens nur temporär berechtigt gewesen sei. Bereits die erstinstanzliche negative Asylentscheidung vom 4. Oktober 2007 hätte der Bw als eindeutiges Indiz werten müssen, dass sein Aufenthalt in Österreich zeitlich begrenzt sein könne.

Eine berufliche Integration sei nicht vorhanden. Der Bw sei im Alter von 29 Jahren nach Österreich eingereist. Aufgrund dieses Umstands und aufgrund seiner in der Türkei absolvierten Ausbildung sowie der dort lebenden Geschwister sei eine Reintegration im Heimatstaat zumutbar.

 

Laut ständiger Judikatur des VwGH stelle die Übertretung fremdenpolizeilicher Vorschriften einen gravierenden Verstoß gegen die österreichische Rechtsordnung dar. Durch die nicht rechtzeitige Ausreise nach negativer Beendigung des Asylverfahrens werde die öffentliche Ordnung schwerwiegend beeinträchtigt. Es könne nicht hingenommen werden, dass Fremde ihren nicht rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich beharrlich fortsetzen und die Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen versuchen.

 

Zusammenfassend stellt die belangte Behörde fest, das die Ausweisung zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten und im Sinne der fremdenrechtlichen Vorschriften zulässig erscheine.

 

2. Gegen diesen Bescheid erhob der Bw durch seinen rechtsfreundlichen Vertreter rechtzeitig Berufung mit Schriftsatz vom 27. Juli 2010. Darin werden die Anträge gestellt, eine Ausweisung als auf Dauer unzulässig auszusprechen; in eventu den Bescheid aufzuheben und der belangten Behörde die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen. Abschließend beantragt der Bw die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

 

Der Rechtsvertreter hält fest, dass gemäß § 66 FPG eine Ausweisung, durch die in das Privat- und Familienleben eines Fremden eingegriffen wird, nur dann erlassen werden dürfe, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 EMRK genannten Ziele dringend geboten sei. Im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK dürfe eine Ausweisung nicht erlassen werden, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

 

Inhaltlich verweist der Bw auf seine bisherigen Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren und ergänzt, dass sich seine Frau im sechsten Schwangerschaftsmonat befinde. Der Bw bereite sich auf seine Deutschprüfung auf Niveau A2 vor.

Durch die bevorstehende Geburt des zweiten Kindes werde sein Familienleben in Österreich noch mehr verfestigt, zumal die Frau und die Tochter des Bw über Niederlassungsbewilligungen verfügen würden.

Der Bw beschaffe alle für eine Eheschließung in Österreich erforderlichen Dokumente. Die Eltern seiner Frau würden den Bw und seine Familie finanziell unterstützen, die Bindung zu den Schwiegereltern sei sehr stark.

 

Unter richtiger Würdigung dieser Kriterien im Lichte des Art. 8 EMRK hätte die Erstbehörde zum Ergebnis gelangen müssen, dass die Ausweisung des Bw einen dauerhaften und unzulässigen Eingriff in sein Recht auf Privat- und Familienleben darstelle.

 

3. Die belangte Behörde legte zunächst den in Rede stehenden Verwaltungsakt der Sicherheitsdirektion Oberösterreich vor.

 

Mit 1. Juli 2011 trat das Fremdenrechtsänderungsgesetz, BGBl. I Nr. 38/2011 in wesentlichen Teilen in Kraft. Aus § 9 Abs. 1a FPG in der nunmehr geltenden Fassung ergibt sich, dass der Unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über die Berufung zuständig ist, weshalb der in Rede stehende Verwaltungsakt von der Sicherheitsdirektion Oberösterreich – nach Inkrafttreten der Novelle am 1. Juli 2011 – dem Unabhängigen Verwaltungssenat übermittelt wurde.

 

3.1. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den vorgelegten Verwaltungsakt der belangten Behörde, einen aktuellen Versicherungsdatenauszug sowie die mündliche Information der Oö. Gebietskrankenkasse, je einen aktuellen Auszug aus dem Elektronischen Kriminalpolizeilichen Informationssystem und dem Zentralen Melderegister und durch mündliche Auskunft des rechtsfreundlichen Vertreters des Bw.

 

3.2. Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte abgesehen werden, da bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist (§ 67d Abs. 2 Z. 1 AVG).

 

Der Oö. Verwaltungssenat geht bei seiner Entscheidung von dem unter 1. und 2. dargestellten und unbestrittenen Sachverhalt aus.

Ergänzend stellt der Oö. Verwaltungssenat fest, dass der Bw und seine bislang nur kirchlich angetraute Frau am X in Linz standesamtlich geheiratet haben.

Am X ist das zweite Kind des Bw und seiner Gattin in X zur Welt gekommen.

Am 30. Juli 2010 hat der Bw die Deutschprüfung auf Niveau A2 bestanden.

Der Bw ist seit der standesamtlichen Eheschließung bei seiner Gattin mitversichert.

Der Bw ist unbescholten und laut Auskunft seines rechtsfreundlichen Vertreters hat sich an der Lebenssituation des Bw seit Einbringung der Berufung nichts verändert – der Arbeitsvorvertrag ist nach wie vor aufrecht und die Familie des Bw wird nach wie vor von den Schwiegereltern finanziell unterstützt.

 

3.3. Der Unabhängige Verwaltungssenat ist zur Entscheidung durch eines seiner Mitglieder berufen (vgl. § 67a Abs. 1 Z 1 AVG).

 

4. In der Sache hat der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich erwogen:

 

4.1.1. Gemäß § 125 Abs. 14 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 erlassene Ausweisungen gemäß § 53 als Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter, mit der Maßgabe, dass ein Einreiseverbot gemäß § 53 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 damit nicht verbunden ist.

 

4.1.2. Im vorliegenden Fall wurde die Ausweisung auf Basis des § 53 FPG (in der Fassung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011) erlassen, weshalb diese Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne des § 52 FPG in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 anzusehen und zu beurteilen ist.

 

4.2.1. Gemäß § 52 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes – FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBl. I Nr. 38/2011, ist gegen einen Drittstaatsangehörigen, sofern nicht anderes bestimmt ist, mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die Rückkehrentscheidung wird mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Berufung gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 66 Abs. 4 AVG auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

 

4.2.2. Im vorliegenden Fall ist auch vom Bw selbst unbestritten, dass er über keinerlei Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt und somit grundsätzlich unrechtmäßig aufhältig ist. Allerdings ist bei der Beurteilung der Rückkehrentscheidung sowohl auf Art. 8 EMRK als auch § 61 FPG Bedacht zu nehmen.

4.3.1. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist allerdings ein Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts gemäß Abs. 1 (nur) statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Nach § 61 Abs. 1 FPG ist, sofern durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 2 FPG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

1.         die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der       bisherige         Aufenthalt des Fremden rechtmäßig war;

2.         das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3.         die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4.         der Grad der Integration;

5.         die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6.         die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7.         Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des     Asyl-   Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8.         die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem            Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren   Aufenthaltstatus bewusst waren;

9.         die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden       zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Gemäß § 61 Abs. 3 FPG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein aufgrund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder 51ff. NAG) verfügen, unzulässig wäre.

Gemäß § 125 Abs. 20 FPG, gelten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes, BGBl. I Nr. 38/2011 vorgenommene Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 66 als Beurteilungen und Entscheidungen gemäß § 61 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 weiter.

 

4.3.2. Im Sinne der zitierten Normen ist eine Interessenabwägung – basierend auf einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung – vorzunehmen.

 

Gestützt auf die ständige Rechtsprechung der Höchstgerichte ist es grundsätzlich zulässig und erforderlich, Maßnahmen zu ergreifen, um den unrechtmäßigen Aufenthalt einer Person zu beenden, da ein solcher rechtswidriger Status fraglos dazu geeignet ist, die öffentliche Ordnung eines Staates massiv zu beeinträchtigen. Daraus folgt, dass das diesbezügliche öffentliche Interesse hoch anzusetzen ist und eine Rückkehrentscheidung grundsätzlich ein nicht inadäquates Mittel darstellt, um einen rechtskonformen Zustand wiederherzustellen. Dies gilt jedoch nur insofern, als die privaten bzw. familiären Interessen im jeweils konkreten Einzelfall nicht als höherrangig anzusehen sind.

 

In Anbetracht des rund sechs Jahre währenden Aufenthaltes im Bundesgebiet ist dem Bw eine der Dauer seines Aufenthaltes entsprechende Integration zu zugestehen.

 

Das Gewicht der aus der Aufenthaltsdauer ableitbaren Integration wird jedoch angesichts der ständigen Judikatur des VwGH dadurch gemindert, als der Aufenthalt des Bw während des Asylverfahrens nur aufgrund eines Antrages, welcher sich letztendlich als unberechtigt erwiesen hat, temporär berechtigt war.

 

Dem Bw musste bewusst sein, dass er ein Privat- und Familienleben während eines Zeitraumes, in dem er einen "unsicheren" Aufenthaltsstatus hatte, geschaffen hat, (vgl. etwa Erkenntnis vom 08.11.2006, Zahl 2006/18/0344 sowie Zahl 2006/18/0226 ua.). Er durfte nicht von vornherein damit rechnen, nach einem allfälligen negativen Ausgang des Asylverfahrens weiterhin in Österreich bleiben zu dürfen.

 

Im Hinblick auf den rund sechs Jahre währenden Aufenthalt in Österreich ist im Besonderen auf die die jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abzustellen. Wie folgt wiedergegeben, hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 22. Dezember 2009, GZ 2009/21/0348, einer sozialen Integration, obwohl sie in einem Zeitraum entstanden ist, während dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war, ein nicht unbeachtliches Gewicht beigemessen.

 

Das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich ist in seinem Gewicht gemindert, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (E. vom 22. Oktober 2009, Zl. 2009/21/0293; E. vom 29. September 2009, Zl. 2009/21/0253; E. des VfGH vom 3. März 2008, B 825/07 mit Bezug auf die Urteile des EGMR vom 31. Jänner 2006, Rodrigues da Silva und Hoogkaamer gegen die Niederlande [Beschwerde Nr. 50435/99] und vom 31. Juli 2008, Darren Omoregie u.a. gegen Norwegen [Beschwerde Nr. 265/07]). Der EGMR stellt in den angesprochenen Urteilen darauf ab, ob das Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen bewusst waren, der Aufenthaltsstatus eines Familienmitgliedes sei derart, dass der Fortbestand des Familienlebens im Gastland von vornherein unsicher ist. Sei das der Fall, bewirke eine Ausweisung des ausländischen Familienangehörigen nur unter ganz speziellen bzw. außergewöhnlichen Umständen ("in exceptional circumstances") eine Verletzung von Art 8 EMRK (vgl.: E vom 19. Februar 2009, Zl. 2008/18/0721, E. vom 30. April 2009, Zl. 2009/21/0086). In diesem Sinn ist nach der Z. 8 des § 66 Abs. 2 FPG [in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011] aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Annordnung bei der Interessensabwägung darauf Bedacht zu nehmen, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war. Freilich hat die genannte Bestimmung schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte.

 

Im Erkenntnis vom 20. Jänner 2011, Zl. 2010/22/0158, hat der Verwaltungsgerichtshof bei einer im Wesentlichen vergleichbaren Sachlage, jedoch eines knapp über 10 Jahre bestehenden Aufenthaltes, dem persönlichen Interesse des Fremden am Verbleib in Österreich ein solches Gewicht beigemessen, dass eine Ausweisung unzulässig ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat dabei wie folgt ausgeführt:

 

Der Beschwerdeführer verweist auf seine Erwerbstätigkeit und darauf, dass er sich während seines Aufenthaltes in Österreich "in privater Hinsicht sehr gut integriert" habe. Die belangte Behörde hob zwar zu Recht hervor, dass dem Beschwerdeführer bereits nach erstinstanzlicher Abweisung seines Asylantrages die Unsicherheit seines Aufenthaltsstatus bewusst war, er somit nicht mit einem legalen Aufenthalt in Österreich rechnen durfte. Sie ist auch darin im Recht, dass dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. für viele etwa das Erkenntnis vom 6. Juli 2010, 2008/22/0688). Dementsprechend haben Fremde nach Abweisung ihres Asylantrages grundsätzlich den rechtmäßigen Zustand durch Ausreise aus dem Bundesgebiet herzustellen. Demgegenüber vermag der Beschwerdeführer jedoch einen bereits über zehnjährigen Aufenthalt in Österreich für sich ins Treffen zu führen und es stellte die belangte Behörde auch fest, dass er erwerbstätig ist. Diese Umstände verleihen dem persönlichen Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich ein solches Gewicht, dass die Ausweisung unverhältnismäßig erscheint (vgl. zu ähnlichen Fällen etwa die E. vom 26. August 2010, 2010/21/0206 und 2010/21/0009).

 

4.4. Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob wegen eines besonders stark ausgeprägten persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich akzeptiert werden muss, dass der Bw mit seinem Verhalten im Ergebnis versucht, vollendete Tatsachen ("fait accompli") zu schaffen (Hinweis E 24. Oktober 2007, 2007/21/0361), vgl. 2007/21/0074 17.07.2008.

 

Mit rund sechs Jahren Dauer kann der Bw auf einen relativ langen Aufenthalt in Österreich verweisen, wobei der größte Teil davon rechtmäßig war.

 

Bezüglich des von der belangten Behörde ins Treffen geführten unsicheren Aufenthalts des Bw zum Zeitpunkt des Entstehens des Privat- und Familienlebens ist insbesondere auf die jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen. Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass der Bw bereits vor seiner Einreise nach Österreich mit seiner Frau kirchlich verheiratet und das erste Kind bereits geboren war. Es ist also davon auszugehen, dass das Privat- und Familienleben des Bw im Bundesgebiet bereits vor dem Zeitpunkt, in dem sich der Bw seines unsicheren Aufenthalts bewusst sein musste, begonnen hat.

 

Der Bw ist aufgrund fehlender entsprechender Berechtigungen bislang in Österreich keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachgegangen, er war aber stets entweder selbstversichert oder bei seiner Frau, die derzeit Kinderbetreuungsgeld bezieht, mitversichert. Der Bw verfügt aber über einen aufrechten Arbeitsvorvertrag, der ihm ab Erteilung der erforderlichen Berechtigung sofort den Verdienst des Familienunterhalts ermöglichen würde. Derzeit wird der Familienunterhalt von der Frau des Bw mit Unterstützung der Schwiegereltern bestritten.

 

Es kann dem Bw wohl nach einem rund sechsjährigen Aufenthalt ein hohes Maß an Integration zugemessen werden. Dafür sprechen auch die vom Bw mittels Zertifikat des Niveaus A2 dokumentierten und von der Behörde unbestrittenen Deutschkenntnisse.

 

Weiters genießt im vorliegenden Fall die soziale Integration einen hohen Stellenwert. Belegt ist dies dadurch, dass der Bw ua. durch seine Familie sowie durch die von ihm mittels Unterstützungserklärung geltend gemachten und von der belangten Behörde nicht widerlegten Kontakte zu in Österreich ansässigen Personen, darunter auch österreichische Staatsangehörige, sozial integriert ist. Die Tochter des Bw besucht in Österreich die Schule, die Frau des Bw verfügt über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt EG".

 

Der Bw lebt seit 19. März 2010 mit seiner Frau am gemeinsamen Wohnsitz und führt mit ihr und den gemeinsamen Kindern unbestritten ein intaktes Familienleben. Er weist zweifelsfrei einen starken familiären und privaten Bezug zu Österreich auf.

 

Eine allfällige Rückkehrentscheidung wirkt sich nicht nur auf den geschützten Bereich des Bw aus. Auch gegenüber den daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen (Ehegattin und die beiden Kinder) würde diese Entscheidung einschneidende Auswirkungen haben und durch die Trennung würde unzulässigerweise massiv in deren Familienleben eingriffen werden.

 

Nach dem in Rede stehenden Zeitraum ist durchaus nachvollziehbar, dass die Bindung an den Heimatstaat keine relevante Ausprägung erreicht hat. Demgegenüber ist nicht unerheblich, dass der Bw 29 Jahre in der Türkei gelebt und dort die Schule bzw. seine Berufsausbildung absolviert hat. Die Schilderung der Lebensumstände der in der Türkei lebenden Verwandten, wonach die Geschwister des Bw keine Möglichkeit hätten, den Bw bei sich aufzunehmen, bleibt von der belangten Behörde aber unbestritten.

 

Der Bw ist strafgerichtlich unbescholten.

 

Auch wenn der Bw die im Erkenntnis des VwGH vom . Jänner 2011, Zl. 2010/22/0158 – exemplarische – Aufenthaltsdauer von 10 Jahren unterschritten hat, ist gemäß der oben angeführten Judikatur des VwGH und VfGH in diesem Fall hinsichtlich der Frage eines unsicheren Aufenthalts nach § 61 Abs. 2 Z. 8 FPG bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände festzustellen, dass die für die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sprechenden privaten und familiären Elemente die des öffentlichen Interesses gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK überwiegen.

 

Nicht zuletzt wird auch davon auszugehen sein, dass gemäß § 61 Abs. 2 Z. 9 FPG von einer eher in die Sphäre der Behörden fallenden langen Verfahrensdauer gesprochen werden muss, zumal in den asylrechtlichen Entscheidungen nicht über eine Ausweisung des Bw abgesprochen wurde.

 

Die dargelegten Umstände verleihen dem persönlichen Interesse des Bw an einem Verbleib in Österreich ein solches Gewicht, dass die Rückkehrentscheidung unverhältnismäßig ist.

 

Abschließend sei angemerkt, dass dem Bw aufgrund der Tatsache, dass er Familienangehöriger einer Drittstaatsangehörigen mit dem Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt – EG" ist, gemäß § 50 Abs 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG, idF. BGBl I Nr. 2011/38, zur Stellung eines Antrags auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung als Familienangehöriger berechtigt ist.

 

4.5. Im Ergebnis ist eine Rückkehrentscheidung im Hinblick auf das Privat- und Familienleben des Bw auf Dauer unzulässig.

 

4.5. Es war daher der Berufung stattzugeben, der angefochtene Bescheid aufzuheben und spruchgemäß zu entscheiden.

 

5. Da der Bw ausreichend der deutschen Sprache mächtig ist, konnte gemäß      § 59 Abs. 1 FPG von der Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung Abstand genommen werden.

 

 

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

 

Hinweis:

1. Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einem Rechtsanwalt unterschrieben sein. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

2. Im Verfahren sind Stempelgebühren in Höhe von 26,- Euro (Eingabe- und Beilagengebühr) angefallen.

 

 

 

Mag. Christian Stierschneider

 

 

 

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