Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
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VwSen-109048/5/Br/Gam

Linz, 16.06.2003

VwSen-109048/5/Br/Gam Linz, am 16. Juni 2003

DVR.0690392

ERKENNTNIS

Der unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mitglied Dr. Bleier über die Berufung der Frau G P, N 24, N, vertreten durch Dr. G D, H M, W, gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck, vom 1. April 2003, Zl.: VerkR96-27616-2002, wegen Übertretung der StVO 1960, nach der am 16. Juni 2003 durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung und Verkündung, zu Recht erkannt:

I. Der Berufung wird Folge gegeben; das angefochtene Straferkenntnis wird behoben und das Verwaltungsstrafverfahren nach § 45 Abs.1 Z2 VStG eingestellt.

Rechtsgrundlage:

§ 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, BGBl.Nr. 51, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 117/2002 - AVG iVm § 6, § 24, § 51 Abs.1 und § 51e Abs.1 Verwaltungsstrafgesetz 1991, BGBl. Nr. 52, zuletzt geändert durch BGBl.I Nr.117/2002 - VStG.

II. Es entfallen sämtliche Verfahrenskostenbeiträge.

Rechtsgrundlage:

§ 66 Abs.1VStG.

Entscheidungsgründe:

1. Die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck hat mit dem o.a. Straferkenntnis über die Berufungswerberin wegen einer Übertretung nach § 20 Abs.2 StVO 1960 eine Geldstrafe von 170 Euro und für den Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe im Ausmaß von 72 Stunden verhängt, weil sie am 10.9.2002 um 16.15 Uhr das KFZ mit dem Kennzeichen auf der A1 in Richtung S lenkte und dabei bei Strkm 234,399 in der dort gelegenen Baustelle die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 51 km/h überschritten habe.

1.1. Die Behörde erster Instanz stützte den Schuldspruch auf das Ergebnis der unbestritten bleibenden Radarmessung. Der Rechtfertigung der Berufungswerberin, wonach ihr an einem Rachentumor leidende Gatte einen für sie lebensbedrohlich wirkenden Husten- bzw. Erstickungsanfall erlitten habe, weshalb sie versuchte so rasch als möglich einen Arzt zu erreichen und sie darin eine Notstandssituation erblickte, folge die Behörde erster Instanz nicht. Sinngemäß vermeinte die Behörde erster Instanz unter Hinweis auf eine erst drei Kilometer nach der Geschwindigkeitsüberschreitung liegenden Ausfahrt, die Berufungswerberin hätte wohl durch ein unverzügliches Anhalten am Pannenstreifen hilfreicher gehandelt.

Ebenfalls verweist die Behörde erster Instanz auf einschlägige Judikatur zu § 6 VStG, wobei jedoch der unter Hervorhebung in Fettschrift getätigte Hinweis, ein Notstand "trifft aber selbst bei Annahme einer wirtschaftlichen Schädigung, sofern sie die Lebensmöglichkeit selbst nicht unmittelbar bedroht, nicht zu" mit diesem Anlassfall wohl kaum in Einklang gebracht werden kann.

Es lässt sich nämlich der Verantwortung der Berufungswerberin ein wirtschaftliches Motiv ihres Handelns nicht ableiten, vielmehr wird von der Berufungswerberin verdeutlicht wegen des Erstickungs- bzw. Hustenanfalls um das Leben ihres Gatten besorgt gewesen zu sein. Die Tatsache des Hustenanfalls scheint selbst die Behörde erster Instanz nicht in Frage gestellt zu haben.

Selbst in der Schuldzumessung setzt sich die Behörde erster Instanz nicht mit der Verantwortung der Berufungswerberin auseinander, sondern es wird lediglich auf den Unwertgehalt einer derartigen Geschwindigkeitsüberschreitung Bezug genommen.

2. Dagegen wendet sich die Berufungswerberin mit ihrer fristgerecht durch ihren ag. Rechtsvertreter erhobenen Berufung.

3. Die Erstbehörde hat den Akt zur Berufungsentscheidung vorgelegt; somit ist die Zuständigkeit des unabhängigen Verwaltungssenates gegeben. Dieser hat, da keine 2.000 Euro übersteigende Geldstrafe verhängt worden ist, durch das nach der Geschäftsverteilung zuständige Einzelmitglied zu entscheiden. Die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung war erforderlich, weil einerseits eine solche ausdrücklich beantragt wurde und andererseits auch deren Durchführung in Wahrung der gem. Art. 6 EMRK intendierten Rechte in Form der insbesondere hier fallspezifisch indizierten unmittelbaren Beweisaufnahme und deren Würdigung geboten schien (§ 51e Abs.1 VStG).

4. Der unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme und Erörterung des Inhaltes des Verwaltungsstrafaktes der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck, Zl.: VerkR96-27616-2002. Dem vorgelegten Akt beigeschlossen findet sich eine Bestätigung von Dr. med. N.W. K, Dr. med.univ. M. K, F J Str. 22, S. Darin wird dem Gatten der Berufungswerberin ein Tumorleiden im Rachenraum bestätigt, welcher zu häufigem Verschlucken mit ausgeprägten Hustenanfällen führt. Beweis erhoben wurde ferner durch Einholung einer Information bei der Landessanitätsdirektion, Dr. H (AV v. 28. Mai 2003). Im Rahmen der Berufungsverhandlung wurde die Berufungswerberin gehört.

Ein Vertreter der Behörde erster Instanz nahm an der Berufungsverhandlung nicht teil.

5. Folgender Sachverhalt gilt aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens als erwiesen:

5.1. Die Berufungswerberin war damals als Lenkerin eines Pkw mit ihrem an einem Kehlkopfkarzinom leidenden Ehemann zu einer postoperativen Behandlung zu einem Arzt nach S unterwegs. Diese Fahrten erfolgten zu diesem Zeitpunkt mit dem Privat-Pkw wiederholt und ärztlich unbedenklich von N nach S. Von einer allfälligen Inkaufnahme einer solchen Situation kann mit Blick darauf nicht die Rede sein.

Im Zuge der Fahrt am 10. September 2002 um ca. 16.15 Uhr erlitt der Ehemann einen sehr heftigen Hustenanfall. Dieser löste bei der Berufungswerberin die Angst, ihr Gatte könnte daran ersticken, aus. Auf Grund dieses Umstandes versuchte sie so rasch als möglich nach S zu gelangen, um damit der bedrohlichen Situation um den Gesundheitszustand ihres Gatten in geeigneter Weise entgegen zu wirken. Dabei missachtete sie die in einer Baustelle vorgeschriebene erlaubte Höchstgeschwindigkeit im beträchtlichen Umfang. Weitere Fahrzeuge konnten sich wohl zum Zeitpunkt der Messung nicht vor ihr befunden haben, was gleichzeitig der Annahme gerechtfertigt erscheinen lässt, dass mit dieser Überschreitung der Geschwindigkeit keinerlei konkrete nachteilige Folgen verbunden waren.

Die Berufungswerberin machte folglich den behandelnden Arzt von diesem Husten- bzw. Erstickungsanfall Mitteilung, was dieser der Berufungswerberin in einem Schreiben vom 15. Oktober 2002 dahingehend bestätigte, dass der Patient auch nach dem Eintreffen in der Ordination noch von Hustenanfällen betroffen war. Eine von h. getätigte Rückfrage bei der Sanitätsdirektion, Frau Dr. H, erbrachte das Ergebnis, dass angesichts der Diagnose "Kehlkopfkarzinom" ein derartiger Hustenanfall bei einem Laien durchaus die Befürchtung einer drohenden Erstickungsgefahr auszulösen vermag.

Die Berufungswerberin legte diese Befürchtung auch im Rahmen der Berufungsverhandlung glaubwürdig dar. Sie erklärte dabei die zahlreichen Fahrten zur Therapie zu dem in S etablierten Arzt. Ebenfalls für den Oö. Verwaltungssenat nachvollziehbar wurde von der Berufungswerberin der Krankheitsverlauf und insbesondere ihre damals mit diesem Hustenanfall einhergehende Panik wegen dieses Hustenanfalls geschildert.

Bei lebensnaher Betrachtung fällt es der Berufungsbehörde nicht schwer, dass die Berufungswerberin in dieser durchaus mit Angst- und Verzweiflungsgefühlen begleiteten Situation als einzige Abhilfe ein möglichst rasches Vorankommen erblickt wurde. Die im Rahmen des Berufungsverfahrens eingeholte Fachinformation, wonach ein solcher Anfall angesichts der hier der Berufungswerberin bekannten Diagnose eines Rachenkarzinoms tatsächlich die Befürchtung einer drohenden Erstickung auszulösen vermag, macht die von Anfang an gleichlautende Verantwortung der Berufungswerberin auch objektiv glaubwürdig. Eine adäquatere Möglichkeit einer angemessenen Hilfeleistung mag daher für die Berufungswerberin in ihrer subjektiven Beurteilung der Faktenlage nur in einem möglichst raschen Erreichen des Arztes erblickt worden sein. Diese Situation hat bei der Berufungswerberin subjektiv bzw. seelisch wohl durchaus die Dimension einer Notstandssituation auszulösen vermocht, d.h. es konnte für sie das Schutzgut der Einhaltung der Geschwindigkeitsbeschränkung nur mehr als nebensächlich im Vergleich zur Wahrung der Gesundheit und möglicher Weise sogar des Lebens ihres Mannes gesehen werden. Dies in Form der Entscheidung ihren Gatten nur mit einer möglichst raschen Fahrt zum Arzt effektiv helfen zu können.

6. Rechtlich hat der unabhängige Verwaltungssenat erwogen:

6.1. Nach § 99 Abs.3 lit.a StVO 1960 begeht u.a. eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 728 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Arrest bis zu zwei Wochen, zu bestrafen, wer als Lenker eines Fahrzeuges, gegen die Vorschriften dieses Bundesgesetzes oder der auf Grund dieses Bundesgesetzes erlassenen Verordnungen verstößt und das Verhalten nicht nach den Abs.1, Abs.1a, 1b, 2, 2a, 2b oder 4 zu bestrafen ist.......

Nach § 6 VStG ist eine Tat nicht strafbar, wenn sie durch Notstand entschuldigt oder, obgleich sie dem Tatbestand einer Verwaltungsübertretung entspricht, vom Gesetz geboten oder erlaubt ist.

Diese Bestimmung kann jedenfalls nicht so interpretiert werden, dass sie selbst bei vermeintlich drohender Lebensgefahr nicht zur Anwendung gelangen könnte. In diesem Sinn ist der Berufungswerberin zu folgen, wenn sie vermeint, dass eine "Notstandsituation" einer Beurteilung ex ante und nicht - wie dies der Behörde erster Instanz vorzuschweben schien - lediglich ex post zu erfolgen habe. Unerfindlich und fast zynisch scheint in diesem Zusammenhang, wenn die Behörde erster Instanz ihre Nichtzuerkennung eines Notstandes u.a. hülsenhaft mit dem Satz, "dies trifft aber selbst bei der Annahme einer wirtschaftlichen Schädigung, sofern sie die Lebensmöglichkeit selbst nicht unmittelbar bedroht, nicht zu", zu begründen versucht. Die Behörde erster Instanz setzt sich demnach in Wahrheit weder mit dem physischen Zustand des Ehemanns der Berufungswerberin noch mit deren psychischen Zustand in dieser Situation überhaupt nicht auseinander.

Wenn demnach der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung wiederholt ausgeführt hat, dass im Falle der Kollision von Pflichten und Rechten zu verstehen ist, "wenn jemand sich oder einem anderen aus schwerer unmittelbarer Gefahr einzig und allein dadurch retten kann [oder zu retten können glaubt], dass er eine im allgemeinen strafbare Handlung begeht (vgl. hiezu die bei HAUER-LEUKAUF a.a.O. unter 1a zu § 6 VStG zitierten Entscheidungen, VwGH 11.10.1991, 91/18/0079, insb. zur Frage Geschwindigkeitsüberschreitung, Beweiswürdigung und Notstand VwGH 10.9.1999, 90/03/0123, VwGH 19.11.1964, 6496/A). Eine entsprechende Güterabwägung und ein darauf gestütztes vermeintlich sachbezogenes Abwehrverhalten muss in lebenspraktischer Beurteilung einem Menschen in einem solch einzigartigem Fall wohl doch noch zuerkannt werden. Das in gutgläubiger Absicht der Wahrung der physischen Existenz eines Familiemitgliedes der Vorrang zukommt sollte dabei nicht zweifelhaft sein.

7. Nach § 45 Abs.1 VStG hat die Behörde von der Einleitung oder Fortführung eines Strafverfahrens abzusehen und die Einstellung zu verfügen, wenn die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat nicht erwiesen werden kann oder keine

  1. Verwaltungsübertretung bildet;
  2. der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Verwaltungsübertretung nicht begangen hat oder Umstände vorliegen, die die Strafbarkeit aufheben oder ausschließen;

Ein solcher die Strafbarkeit ausschließender Umstand liegt im Falle einer subjektiv tatseitig als erwiesen geltender Notstandssituation vor.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

H i n w e i s:

Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab der Zustellung eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof oder beim Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss - von den gesetzlichen Ausnahmen abgesehen - jeweils von einem Rechtsanwalt unterschrieben sein. Für jede dieser Beschwerden ist eine Gebühr von 180 Euro zu entrichten.

Dr. B l e i e r

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