Unabhängiger Verwaltungssenat
des Landes Oberösterreich
FAQs| Sitemap| Weblinks

VwSen-231122/2/WEI/Sic/Ba

Linz, 24.02.2011

 

 

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat durch sein Mit­glied Dr. Wolfgang Weiß über die Berufung des X X, geb. X, türkischer Staatsangehöriger, X, X, vormals vertreten durch Mag. Dr. X X und Mag. Dr. X X, Rechtsanwälte in X, X, gegen das Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion Linz vom 5. Juli 2010, Zl. S-16.360/10-2, wegen einer Verwaltungsübertretung nach dem Fremdenpolizeigesetz zu Recht erkannt:

I.  Der Berufung wird stattgegeben, das angefochtene Straferkenntnis aufgehoben und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 2 VStG eingestellt.

II. Der Berufungswerber hat weder einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens erster Instanz noch zu den Kosten des Berufungsverfahrens zu leisten.

Rechtsgrundlagen:

zu I: § 66 Abs 4 Allgemeines Verwal­tungsverfahrens­gesetz 1991 – AVG iVm §§ 24, 51 Verwaltungsstrafgesetz 1991 - VStG

zu II: § 66 Abs 1 VStG.

 


Entscheidungsgründe:

1.1. Mit dem angefochtenen Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion Linz vom 5. Juli 2010 wurde der Berufungswerber (in der Folge: Bw) wie folgt für schuldig befunden:

 

"Wie vom Fremdenpolizeilichen Referat der BPD Linz am 25.02.2010 anlässlich einer fremdenpolizeilichen Überprüfung festgestellt wurde, sind Sie Fremder im Sinne des § 2 Abs 4 Z 1 des Fremdenpolizeigesetzes und Sie halten sich seit 07.11.2009 unrechtmäßig im Bundesgebiet von Österreich auf, da Sie weder aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung oder einer Dokumentation des Aufenthaltsrechtes nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz noch aufgrund einer Verordnung für Vertriebene zum Aufenthalt berechtigt sind, Sie nicht im Besitze eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels sind, Ihnen eine Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz nicht zukommt und Sie nicht Inhaber einer Beschäftigungsbewilligung, Entsendebewilligung oder Anzeigebestätigung nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz mit einer Gültigkeitsdauer bis zu 6 Monaten sind."

 

Dadurch erachtete die belangte Behörde "§ 120 Abs. 1 Z. 2 iVm § 31 Abs. 1 Z 2-4 u. 6 FPG" als verletzt und verhängte wegen dieser Verwaltungsübertretung über den Bw gemäß § 120 Abs 1 FPG eine Geldstrafe in der Höhe von 1.000 Euro und für den Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe von 4 Tagen.

 

1.2. Nach Wiedergabe des bisherigen Verfahrensablaufes und der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen stand für die belangte Behörde fest, dass der Bw mangels österreichischer Staatsbürgerschaft ein Fremder iSd Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) sei und über keine Aufenthaltsberechtigung nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) verfüge. Weiters sei der Bw nicht Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels und es komme ihm kein Aufenthaltsrecht nach den asylrechtlichen Bestimmungen zu. Da für ihn auch keine Beschäftigungsbewilligung oder Anzeigebestätigung nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) mit einer Gültigkeitsdauer bis zu 6 Monaten ausgestellt worden sei, erfülle er keine der Voraussetzungen des § 31 Abs 1 FPG. Er halte sich somit nicht rechtmäßig im Bundesgebiet von Österreich auf.

Vom fremdenpolizeilichen Referat der Bundespolizeidirektion Linz sei daher mit Bescheid vom 25. Februar 2010 gegen den Bw die Ausweisung angeordnet worden. Durch die Erhebung der Berufung gegen den Ausweisungsbescheid habe er keinen Aufenthaltstitel erworben, auch wenn darüber noch nicht entschieden wurde. Der Verwaltungsgerichtshof habe bereits eindeutig entschieden, dass der Aufenthalt eines Fremden erst mit der Erteilung einer Niederlassungsbewilligung und nicht schon nach Stellung eines darauf abzielenden Antrages rechtmäßig sei. Weiters würden nur Beschäftigungsbewilligungen nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz einen Aufenthaltstitel darstellen, die für einen Zeitraum von nicht länger als 6 Monaten ausgestellt sind.

Für die belangte Behörde stehe daher fest, dass sich der Bw tatsächlich unrechtmäßig im Bundesgebiet von Österreich aufgehalten und somit gegen die angeführten Bestimmungen des FPG verstoßen habe, weshalb spruchgemäß zu entscheiden gewesen sei.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in mehreren Erkenntnissen ausgesprochen habe, bestehe ein hohes Interesse der Allgemeinheit an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften durch die Normadressaten im Hinblick auf den Schutz der öffentlichen Ordnung (Hinweis auf VwGH vom 19.02.1997, Zl. 96/21/0516).

In diesem Sinne sei bei der Bemessung der Strafe das Ausmaß der mit der Tat verbundenen Schädigung oder Gefährdung derjenigen Interessen, deren Schutz die Strafdrohung diene, und der Umstand, inwieweit die Tat sonst nachteilige Folgen nach sich gezogen habe, berücksichtigt worden. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse seien ebenfalls beachtet worden.

2. Gegen das Straferkenntnis, das dem Bw am 7. Juli 2010 zu Händen seiner Rechtsvertreter zugestellt wurde, richtet sich die am 19. Juli 2010 rechtzeitig zur Post gegebene und am 22. Juli 2010 bei der belangten Behörde eingelangte Berufung, die der Bw eigenhändig unterschrieben hat. Der Bw beantragt darin, das Straferkenntnis zu beheben und das Verwaltungsstrafverfahren einzustellen.

Begründend stellt der Bw zunächst fest, dass er tatsächlich im Tatzeitraum über keinen Aufenthaltstitel verfügte und er mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Linz vom 25. Februar 2010 aus dem Bundesgebiet ausgewiesen wurde. Gegen diesen Bescheid habe er fristgerecht Berufung erhoben und u.a. Verletzung der Garantien nach Art 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geltend gemacht. Eine Entscheidung darüber sei noch nicht ergangen und die Ausweisung daher nicht rechtskräftig. Er habe weiters beim Magistrat der Landeshauptstadt Linz einen Antrag auf Erteilung einer humanitären Niederlassungsbewilligung gestellt, über den bislang nicht entschieden worden sei. Weiters besitze er eine Beschäftigungsbewilligung bis 10. Dezember 2010 (vgl vorgelegte Bescheidkopie des AMS Linz vom 09.11.2009, Zl. X/ABB-Nr. X: Reinigungskraft).

Da er nach Erledigung des Asylantrages alle rechtlichen Schritte unternommen habe und die Anträge noch nicht abgelehnt wurden, er eine Beschäftigungsbewilligung besitze und die aufschiebende Wirkung nicht ausdrücklich aberkannt wurde, beantragte er der Berufung stattzugeben.

3.1. Die Bundespolizeidirektion Linz hat den Verwaltungsstrafakt, Zl. S-16.360/10-2, samt Berufungsschrift - ohne vom Instrumentarium der Berufungsvorentscheidung Gebrauch zu machen - dem Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich mit Schreiben vom 16. August 2010 zur Entscheidung vorgelegt.

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt und die Berufung. Gemäß § 51e Abs 2 Z 1 VStG konnte von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung abgesehen werden, da bereits auf Grund der Aktenlage feststand, dass der mit der Berufung angefochtene Bescheid aufzuheben ist.

3.2. Aus der Aktenlage ergibt sich für den Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich folgender wesentliche S a c h v e r h a l t:

Der Bw, ein Staatsangehöriger der Türkei, reiste im Juni 2001 illegal nach Österreich ein und stellte in der Folge einen Asylantrag, der am 6. November 2009 rechtskräftig abgewiesen wurde. Es handelte sich dabei um ein einziges Verfahren ohne Folgeanträge, in dem nur eine Entscheidung rechtskräftig ergangen ist und welches sich über die Dauer von mehr als 8 Jahren erstreckte. Eine Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz ist in der Fremdeninformationsdatei seit dem 31. Oktober 2001 eingetragen.

Das fremdenpolizeiliche Referat der Bundespolizeidirektion Linz erstattete am 25. Februar 2010 Anzeige gegen den Bw, weil er sich seit der rechtskräftigen negativen Abweisung des Asylantrags rechtswidrig im Bundesgebiet aufhalte.

Die Bundespolizeidirektion Linz forderte den Bw mit Schreiben vom 5. Mai 2010 zur Rechtfertigung auf, wobei ihm vorgeworfen wurde, sich seit 7. November 2009 rechtswidrig im Bundesgebiet aufzuhalten. In seiner Stellungnahme vom 22. Mai 2010 rechtfertigte sich der Bw im Wesentlichen wie in der Berufung.

Daraufhin erließ die belangte Behörde das angefochtene Straferkenntnis vom 5. Juli 2010, mit dem der Bw für schuldig befunden wurde, § 120 Abs 1 Z 2 FPG übertreten zu haben. Gegen dieses Straferkenntnis richtet sich die vorliegende Berufung.

Die Bundespolizeidirektion Linz ordnete mit Bescheid vom 25. Februar 2010, Zl. 1065894/FRB die Ausweisung des Bw aus dem Bundesgebiet an, da er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. Diesen Ausweisungsbescheid hat der Bw mit Berufung an die Sicherheitsdirektion vom 15. März 2010 bekämpft.

Der Bw hat am 23. Februar 2010 eine Niederlassungsbewilligung gemäß § 44 Abs 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) beantragt.

4. In der Sache selbst hat der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich erwogen:

4.1. Gemäß § 120 Abs 1 Z 2 FPG (BGBl I Nr. 100/2005, zuletzt geändert mit BGBl I Nr. 135/2009), begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von 1.000 Euro bis zu 5.000 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu drei Wochen, zu bestrafen

wer sich als Fremder nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.

Nach § 31 Abs 1 FPG halten sich Fremde rechtmäßig im Bundesgebiet auf,

1.     wenn sie rechtmäßig eingereist sind und während des Aufenthalts im Bundesgebiet die Befristungen oder Bedingungen des Einreisetitels oder die durch zwischenstaatliche Vereinbarungen, Bundesgesetz oder Verordnung bestimmte Aufenthaltsdauer nicht überschritten haben;

2.     wenn sie auf Grund einer Aufenthaltsberechtigung oder einer Dokumentation des Aufenthaltsrechtes  nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz zur Niederlassung oder zum Aufenthalt oder auf Grund einer Verordnung für Vertriebene zum Aufenthalt berechtigt sind;

3.     wenn sie Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels sind;

4.     solange ihnen ein Aufenthaltsrecht nach asylrechtlichen Bestimmungen zukommt;

5.     soweit sie nicht auf Grund eines Rückübernahmeabkommens (§ 19 Abs. 4) oder internationaler Gepflogenheiten rückgenommen werden mussten oder nicht auf Grund einer Durchbeförderungserklärung, sonstiger zwischenstaatlicher Abkommen oder auf Ersuchen eines Mitgliedstaates der Europäischen Union um Durchbeförderung (§ 48 Abs. 1) oder aufgrund einer Durchlieferungsbewilligung gemäß § 67 ARHG eingereist sind;

6.     wenn sie eine Beschäftigungsbewilligung nach dem Ausländerbeschäftigungs­gesetz mit einer Gültigkeitsdauer bis zu sechs Monaten, eine Entsendebewilligung, eine EU-Entsendebestätigung, eine Anzeigebestätigung gemäß § 3 Abs. 5 AuslBG oder eine Anzeigebestätigung gemäß § 18 Abs. 3 AuslBG mit einer Gültigkeitsdauer bis zu sechs Monaten, innehaben oder

7.     soweit sich dies aus anderen bundesgesetzlichen Vorschriften ergibt.

4.2. Bis zur rechtskräftigen negativen Abweisung seines Asylantrags am 6. November 2009, war der Bw auf Grund des Asylgesetzes zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Der Aufenthalt des Bw seit dem 7. November 2009 lässt sich jedoch auf keine Bestimmung des § 31 Abs 1 FPG stützen. Auch begründet nach § 44b Abs 3 NAG (BGBl I Nr. 100/2005 idF BGBl I Nr. 122/2009) der Antrag auf Erteilung einer (humanitären) Niederlassungsbewilligung gemäß § 44 Abs 3 NAG kein Aufenthalts- oder Bleiberecht. Damit hat der Bw objektiv tatbestandsmäßig gehandelt, woran auch der noch nicht rechtskräftige Ausweisungsbescheid nichts ändert.

4.3. Das FPG enthält keine eigene Regelung hinsichtlich des Verschuldens, weshalb § 5 Abs 1 VStG zur Anwendung kommt, wonach zur Strafbarkeit fahrlässiges Verhalten genügt. Fahrlässigkeit ist bei Zuwiderhandeln gegen ein Verbot oder bei Nichtbefolgung eines Gebotes dann ohne weiteres anzunehmen, wenn zum Tatbestand einer Verwaltungsübertretung der Eintritt eines Schadens oder einer Gefahr nicht gehört und der Täter nicht glaubhaft macht, dass ihn an der Verletzung der Verwaltungsvorschrift kein Verschulden trifft (Ungehorsamsdelikt).

Auch die gegenständliche Verwaltungsübertretung stellt ein Ungehorsamsdelikt dar. Es genügt daher fahrlässige Tatbegehung. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hat der Bw initiativ alles darzulegen, was für seine Entlastung spricht. Dies hat in erster Linie durch geeignetes Tatsachenvorbringen und durch Beibringung von Beweismitteln oder Stellung konkreter Beweisanträge zu geschehen. Bloßes Leugnen oder allgemein gehaltene Behauptungen reichen für die "Glaubhaftmachung" nicht.

Der Bw bringt diesbezüglich insbesondere vor, dass der Berufung gegen den Ausweisungsbescheid die aufschiebende Wirkung nicht ausdrücklich aberkannt worden sei und es hätten alle Maßnahmen zu unterbleiben, die aufgrund dieses Bescheides zulässig wären. Dazu gehöre auch die Bestrafung wegen unrechtmäßigem Aufenthalt im Bundesgebiet. Jede andere Rechtsauffassung würde dazu führen, dass Fremde in sog "alten Asylverfahren" ihre nach Art 8 EMRK geschützten Grundrechte niemals durchsetzten könnten. Dies würde besonders jene treffen, die lang in Österreich aufhältig, daher meist gut integriert und in erster Linie Adressaten des "humanitären Bleiberechts" sind. Bei Verlassen des Bundesgebietes würde nach der Gesetzeslage jede Möglichkeit für eine Legalisierung des Aufenthalts verloren gehen. Es müsse daher der rechtskräftige Ausgang des Ausweisungsverfahrens im Inland abgewartet werden dürfen.

4.4. Im Beschluss vom 14. September 2009, Zl. AW 2009/21/0149-5, hat der Verwaltungsgerichtshof dargelegt, dass eine Abschiebung während eines anhängigen Verfahrens nach § 44 Abs 4 NAG nicht in Betracht kommt. Dabei führte der Verwaltungsgerichtshof begründend aus:

"§44 Abs. 4 NAG sieht die quotenfreie Erteilung einer 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' unter den in dieser Bestimmung genannten weiteren Bedingungen nur für solche Drittstaatsangehörige vor, die sich im Bundesgebiet aufhalten. Daraus ist zwingend abzuleiten, dass ihnen einerseits die Befugnis zur Inlandsantragstellung zukommt und dass sie andererseits - wenn ihr Antrag nicht zurückzuweisen ist - aber auch die Entscheidung über ihren Antrag im Inland abwarten dürfen, würde doch ein Verlassen  des Bundesgebietes, sei es auch in Befolgung einer Rechtspflicht, als Konsequenz stets die Abweisung eines Antrags nach § 44 Abs. 4 NAG zur Folge haben. Damit wäre indes die durch die genannte Bestimmung bezweckte Regelung für 'Altfälle' - auch wenn gemäß den Kriterien des § 11 Abs 3 NAG ein Aufenthaltstitel nicht zu erteilen wäre (siehe dazu ErläutRV 88 BlgNR 24. GP 11) - völlig 'ausgehebelt', was dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden kann. § 44b Abs. 3 NAG, wonach Anträge - u.a. - nach § 44 Abs. 4 NAG kein Aufenthalts- oder Bleiberecht nach diesem Bundesgesetz begründen und woraus sich ergibt, dass gegen Antragsteller nach dieser Bestimmung eine Ausweisung zulässig ist, kann demnach nicht in dem Sinn verstanden werden, dass ein Drittstaatsangehöriger während eines anhängigen Verfahrens nach § 44 Abs. 4 NAG zum Verlassen des Bundesgebietes verpflichtet wäre oder bei Bestehen einer Ausweisung - abgeschoben werden könnte."

Dieser Rechtsansicht folgend hat der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 22. Oktober 2009, Zl. 2009/21/0293, ausgeführt, dass Anträge nach den §§ 43 Abs 2, 44 Abs 3 und 4 NAG den Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzen und daraus zwingend das Recht abzuleiten sei, die Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer humanitären Niederlassungsbewilligung im Inland abwarten zu dürfen. Der Antragsteller dürfe daher während dieses Verfahrens grundsätzlich nicht abgeschoben werden.

4.5. Dem Bw kann ein schuldhaftes Verhalten nicht vorgeworfen werden, weil dem vom Verwaltungsgerichtshof postulierten "Bleiberecht nach dem NAG" zwangsläufig auch ein über den Abschiebeschutz hinausgehender Inhalt zu kommt. Für den Bw liegt nämlich eine entschuldigende Notstandssituation iSd § 6 VStG mit einem unauflöslichen Interessenkonflikt vor, wenn er einerseits zur Ausreise verpflichtet ist und andererseits aber im Inland bleiben muss, damit sein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltsrechtes überhaupt eine positive Erledigungschance hätte. Der Antrag wurde auch nicht offenkundig unrechtmäßig gestellt, zumal die Voraussetzungen des § 44 Abs 3 NAG erfüllt scheinen: Es liegt kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs 1 Z 1, 2 oder 4 NAG vor und der Bw kann auch glaubhafte Umstände angeben, die bei einer Interessenabwägung iSd Art 8 EMRK nach § 11 Abs 3 NAG zu seinen Gunsten zu werten sein werden.

Da der Bw im vorliegenden Fall ab dem 23. Februar 2010, dem Zeitpunkt der Antragstellung nach § 44 Abs 3 NAG berechtigt war, die Entscheidung über diesen Antrag auf Erteilung einer (humanitären) Niederlassungsbewilligung im Inland abwarten zu dürfen, kann ihm jedenfalls ab diesem Zeitpunkt nicht mehr der im angefochtenen Straferkenntnis zum Ausdruck kommende Schuldvorwurf gemacht werden. Daran ändert auch der Ausweisungsbescheid vom 25. Februar 2010 nichts.

4.6. Was den vorangegangenen Zeitraum vom 7. November 2009 bis zum 25. Februar 2010 betrifft, vertritt der erkennende Verwaltungssenat die Ansicht, dass den Bw aus folgenden Gründen ebenfalls kein Verschulden trifft:

Wird die Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 66 FPG rechtskräftig auf Dauer für unzulässig erklärt, so hat die Behörde gemäß § 44a NAG von Amts wegen einen Aufenthaltstitel gemäß §§ 43 Abs 2 oder 44 Abs 3 NAG zu erteilen.

Gemäß § 44b Abs 3 letzter Satz NAG idF BGBl I Nr. 122/2009 gelten jedoch Verfahren gemäß §§ 43 Abs 2 und 44 Abs 3 NAG über die Fälle des § 25 Abs 2 NAG hinaus als eingestellt, wenn der Fremde das Bundesgebiet verlassen hat.

Gemäß § 66 Abs 2 FPG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMKR) insbesondere zu berücksichtigen:

1.     die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;

2.     das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3.     die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4.     der Grad der Integration;

5.     die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6.     die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7.     Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8.     die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren.

Die Ausweisungsentscheidung der Bundespolizeidirektion Linz war im Zeitpunkt der Fällung des Straferkenntnisses nicht rechtskräftig. Im weiteren Verfahren wird zu prüfen sein, ob die Ausweisung einen zulässigen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Bw darstellt. Dabei darf nach der neuesten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes der Umstand, dass das schützenswerte Privat- und Familienleben des Bw während eines schwebenden Asylverfahren begründet wurde, möglicher Weise nicht zu Ungunsten des Bw gewertet werden.

In dem jüngst ergangenen Erkenntnis vom 7. Oktober 2010, Zl. B 950/10, hielt der Verfassungsgerichtshof fest, dass im Zusammenhang mit der Interessensabwägung nach Art 8 EMRK bei einer in hohem Maße stattgefundenen Integration (z.B. längerer Aufenthalt in Österreich und gute Deutschkenntnisse der Familie) eine "integrationsmindernde" Wertung des Umstandes, dass der Aufenthalt nur aufgrund eines letztlich unberechtigten Asylantrages rechtmäßig war, nicht generell zulässig sei. Vielmehr sei zu berücksichtigen, dass die Integration der Beschwerdeführer während ihrer jeweils einzigen Asylverfahren erfolgte, die sieben Jahre lang ohne rechtskräftige Entscheidung dauerten. Der Staat müsse Voraussetzungen schaffen, dass bis zur ersten rechtskräftigen Entscheidung nicht sieben Jahre verstreichen, wenn keine außergewöhnlich komplexen Rechtsfragen vorliegen und den Fremden die lange Dauer des Asylverfahrens nicht angelastet werden kann. Zudem habe der Umstand, dass die ersten negativen Entscheidungen behoben wurden, für die Beschwerdeführer die Erwartung erweckt, dass nicht zwangsläufig mit einer negativen Entscheidung des Asylverfahrens zu rechnen ist.

Wenn nun nach dieser verfassungsgerichtlichen Judikatur der Aufenthalt während eines einzigen, unverschuldet lange dauernden Asylverfahrens, in dem nicht besonders schwierige Rechtsfragen auftraten, als nicht mehr nur unsicherer Aufenthaltsstatus, sondern als stark "integrationsbegründender" Zustand zu werten ist, erscheint es denkbar, dass auch bei der den Bw betreffenden Ausweisungsentscheidung die Interessenabwägung zu Gunsten einer dauernden Unzulässigkeit der Ausweisung ausfallen könnte Das Vorliegen eines tatsächlichen Familienlebens im engeren Sinn über den gesamten Zeitraum des Aufenthalts im Bundesgebietes ist dabei nicht allein entscheidend, zumal Art 8 EMRK auch die sonstigen im Inland geknüpften Beziehungen im Sinne eines "Privatlebens" schützt. Jedenfalls sind die vom Bw glaubhaft gemachten und im Ausweisungsverfahren näher zu überprüfenden Umständen mögliche Gründe dafür, dass die Ausweisung des Bw auf Dauer für unzulässig erklärt werden und damit gemäß § 44a NAG auch ein Aufenthaltstitel nach § 43 Abs 2 bzw. § 44 Abs 3 NAG erteilt werden könnte.

Dem Bw kann somit auch für den Zeitraum 7. November 2009 bis 23. Februar 2010 kein schuldhaftes Verhalten vorgeworfen werden, weil dem vom Verwaltungsgerichtshof postulierten "Bleiberecht nach dem NAG" zwangsläufig auch ein über den Abschiebeschutz und über die durch Antrag eingeleiteten Verfahren hinausgehender Inhalt zu kommt. Denn wenn nach einer Interessenabwägung iSd Art 8 EMRK die Ausweisung des Bw auf Dauer unzulässig wäre, so müsste ihm von Amts wegen (§ 44a NAG) ein Aufenthaltstitel nach § 43 Abs 2 oder § 44 Abs 3 NAG erteilt werden. Dies ist allerdings nach § 44b Abs 3 letzter Satz NAG nur möglich, solange sich der Fremde im Bundesgebiet aufhält. Für den Bw lag daher bereits vor der Beantragung eines humanitären Bleiberechts eine entschuldigende Notstandssituation iSd § 6 VStG mit einem unauflöslichen Interessenkonflikt vor, wenn er einerseits zur Ausreise verpflichtet ist und andererseits aber im Inland bleiben muss, damit die Verleihung eines Aufenthaltsrechtes infolge einer für den Bw positiven Ausweisungsentscheidung überhaupt möglich ist. Ohne der Berufungsentscheidung vorzugreifen, erscheint die Berufung des Bw gegen die erstinstanzliche Ausweisungsentscheidung nicht von vorneherein aussichtslos. Der Eingriff in sein Privat- und Familienleben durch fremdenpolizeiliche Maßnahmen könnte angesichts der von ihm nicht verschuldeten langen Dauer des einzigen Asylverfahrens im Lichte der zitierten Judikatur des Verfassungsgerichthofs als unverhältnismäßig gewertet werden.

Da der Bw im vorliegenden Fall vertretbar davon ausgehen konnte, nach Abschluss seines Asylverfahrens die rechtskräftige Entscheidung über seine Ausweisung sowie die Entscheidung über seinen Antrag nach dem NAG im Inland abwarten zu dürfen, kann ihm der im angefochtenen Straferkenntnis zum Ausdruck kommende Schuldvorwurf für den gesamten Tatzeitraum nicht gemacht werden. Würde er seiner Ausreisepflicht nachkommen, wären nämlich auf Grund der Gesetzeslage des NAG seine Chancen auf einen Aufenthaltstitel zunichte gemacht. Ein Verfahren nach dem NAG wäre einzustellen bzw von Amts wegen gar nicht einzuleiten. In dieser Zwangslage kann nicht von einer strafrechtlichen Schuld des Bw ausgegangen werden.

Der Berufung war daher stattzugeben, das angefochtene Straferkenntnis aufzuheben und das Strafverfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 2 VStG einzustellen, weil entschuldigende Umstände vorliegen, die die Strafbarkeit des Bw ausschließen.

5. Bei diesem Ergebnis war dem Bw gemäß § 66 Abs 1 VStG weder ein Beitrag zu den Kosten des Berufungsverfahrens vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich noch ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vor der belangten Behörde vorzuschreiben.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Bescheid ist kein ordentliches Rechtsmittel zulässig.

Hinweis:

Gegen diesen Bescheid kann innerhalb von sechs Wochen ab seiner Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und/oder an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden; diese muss – von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen – jeweils von einer bevollmächtigten Rechtsanwältin oder einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingebracht werden. Für jede dieser Beschwerden ist eine Eingabegebühr von 220 Euro zu entrichten.

 

Dr. W e i ß

 

DruckersymbolSeite drucken
Seitenanfang Symbol Seitenanfang
www.uvs-ooe.gv.at| Impressum